Massive Auraverstärkung

Schriften zu Zeitschriften: „Lettre“ hat sich verschönert, das „Wespennest“ sucht derweil nach Globalisierung

Die Weite des Blicks ist das entscheidende Merkmal einer intellektuellen Zeitschrift. Lettre international gelingt es seit Jahren, Menschen und Dinge, Prozesse und Ereignisse stets neu zu sehen – mit einer hierzulande einzigartigen Mischung aus Reportagen, Essays, Literatur und Kommentaren. Die Welt konfiguriert sich nach der Lektüre unwillkürlich anders im Kopf. Doch Kulturzeitschriften geht es wie der taz: Eine spezielle Ausstrahlung ist nötig, um die Käufer (und hoffentlich auch Leser) zu erreichen. Die Inszenierung des Inhalts gehört dazu. Schließlich verlängert eine ästhetische Aufwertung auch die Verweildauer des Produkts auf den Couchtischen. Die Distinktionsgewinne bei den Lesern durch ein gedrucktes Statussymbol garantieren also das Überleben.

Massive Auraverstärkung betreibt Lettre daher in seiner aktuellen Ausgabe und lockt damit hoffentlich mehr Genießer an. Ein neues Druckverfahren und edles Papier erfreuen das Auge und die blätternden Finger. Die Fotografien und die jedes Heft prägende Kunst bekommen dadurch stärkeres Gewicht. Der Engländer David Godgold profitiert als Erster davon: Seine Bild-Text-Verknüpfungen aus christlichen Zeichnungen der letzten Jahrhunderte und eigenen Kommentaren lassen sich ebenso Lettre-programmatisch interpretieren wie der das Heft einleitende Kurzessay Hannes Böhringers über das „Aufräumen“.

Glücklicherweise bleiben die Heftinhalte so kreativ chaotisch wie gewohnt. In einem lesenswerten Essay über Täuschungen und Fälschungen in der Kunst erinnert der französische Schriftsteller Michel Braudeau unter vielen anderen Beispielen an das Meisterstück des 23-jährigen Orson Welles. Am 30. Oktober 1938 verschreckte er abends ab 20 Uhr via CBS mit der Hörspielfassung von Herbert George Wells „Krieg der Welten“ ganz Amerika: Das scheinbar normale Rundfunkprogramm ließ er mehrfach durch inszenierte Livereportagen und Sonderberichte unterbrechen, in denen von der Invasion der Marsianer auf der Erde berichtet wurde. Eine Panik bricht unter den Hörern aus, die Menschen auf den Straßen wollen vor den grünen Männchen fliehen. Die Sendung wurde abgebrochen, CBS zu einer Million Dollar Schadenersatz für die Beinbrüche der Fliehenden verurteilt. Der junge Welles hingegen war weltberühmt, bekam freie Hand für seinen ersten Film und konnte sich sogleich an „Citizen Kane“ abrackern. Die „spielerische Fälschung“ (Braudeau) hatte sich gelohnt.

Mitten hinein in die Antagonismen der Globalisierung stößt Mike Davis in seinem Porträt der Stadt Dubai, jener Boomtown am Persischen Golf, in der sich Repression und Reichtum zu einem neuen Albtraum verdichten: „Dubai ist dort, wo Speer und Disney sich an den Küsten Arabiens begegnen.“ Sergio Benvenuto berichtet angeregt über die „Unglücksverstreuer“, die „Jettatori“ in Neapel, denen andere Menschen ausweichen – eine säkularisierte Variante des Aberglaubens, in der die Magie überlebt. Noch 2001 war der Sänger Marco Masini ihr zum Opfer gefallen und in eine Depression gestürzt, nachdem er als Jettatore bezichtigt wurde. Für unbeirrbare Fans hingegen ist das Gespräch zwischen Boris Groys und Carl Hegemann, die ihr übliches Gebräu zum Thema Kommunismus, Kapitalismus, Religion und Kollektivierung abliefern.

Auch das Wiener Wespennest hat die Welt im Blick. Nach den Themenheften des vergangenen Jahres zu Ruanda, Indien und der südafrikanischen Township Sophiatown begibt sich die aktuelle Ausgabe an die „Orte der Globalisierung“: Robert Misik theoretisiert über Shopping-Malls („die DNA unserer Zeit“), Robert Rotifer schaut skeptisch auf die angebliche popkulturelle Globalisierung, an die man früher noch glauben konnte, damals, als Hard-Rock-Cafés noch coole Schuppen waren. Und wer immer noch nicht genug hat von Natascha Kampusch und Wolfgang Priklopil, der kämpfe sich durch den Essay von Rainer Just, der die emotionale Struktur dieser ambivalenten Zweierkiste mit Hilfe der Weltliteratur und Gespür für Liebesfallen durchforstet. ALEXANDER CAMANN

Lettre international, Nr. 75, 9,80 Euro, www.lettre.deWespennest, Nr. 145 „Orte der Globalisierung“, 12 Euro, www.wespennest.at