Die nackte Seele stört doch sehr

Jede Erinnerung an die Liturgie soll schwinden. Am Freitag hatte Claudio Monteverdis Sakralwerk „Marienvesper“ Premiere in der Staatsoper Unter den Linden. Die Inszenierung besorgte Luk Perceval, die musikalische Leitung hatte René Jacobs

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Von Claudio Monteverdi sind nur drei Opern fragmentarisch überliefert. Die Rekonstruktionen, die René Jacobs in den letzten Jahren an der Staatsoper vorgestellt hat, bewiesen, dass es möglich ist, sie aus dem Dunstkreis der „Alten Musik“ herauszuholen. Alle drei klangen, als seien sie endlich an ihren angestammten Aufführungsort, das Opernhaus, zurückgekehrt.

Monteverdis vollständig erhaltene „Marienvesper“ jedoch ist keine Oper. Sie ist das Bekenntnis des Komponisten zur Gegenreformation des 17. Jahrhunderts. Aber Jacobs und der Regisseur Luk Perceval wollen diesen konservativen, liturgischen Kontext auflösen, um ein Werk von Neuem hörbar zu machen, das so nur noch für Musiker und Zuhörer von heute existiert. Konsequenterweise hat die Bühnenbildnerin Annette Kurz keine Szene für Spielfiguren entworfen. Sie lässt stattdessen aus dem Orchestergraben heraus ein hölzernes Gebirge von fünf Terrassen aufsteigen. Darauf stehen Stühle und Notenständer bereit, und die Aufführung beginnt lange vor dem ersten Ton damit, dass die Mitwirkenden ihre Plätze einnehmen. Man hat viel Zeit, ihnen zuzusehen, sie tragen Straßenmode von heute, mal billig, mal etwas feiner, einige haben ein Musikinstrument in der Hand, die anderen könnten auf der Friedrichstraße flanieren.

Schließlich hat auch Jacobs seinen Platz ganz unten in der Mitte gefunden. Er gibt den Einsatz, und ein junger Mann ziemlich weit oben schmettert solo in den Saal: „Deus in auditorium intende“. Die deutsche Übersetzung – „Gott, komm mir zu Hilfe“ – wird wie in Opern üblich über der Bühne eingeblendet. Mit dem vollen Glanz des auf Jacobs Musiziertechnik eingeschworenen Ensembles scheint das ganze Klanggebirge zusammen darauf zu antworten: Monteverdis „Marienvesper“ hat begonnen, prachtvoll, aber nicht in der Kirche, und eigentlich auch nicht in der Oper, sondern in einem neuen Kunstraum, im dem sich ein statistisch ausgewählter Querschnitt der gegenwärtigen Gesellschaft versammelt hat. Der mächtige Gesamtklang des Beginns löst sich bald auf, wie zufällig bilden sich Gruppen von Singstimmen und Instrumenten und gliedern die Musik auch räumlich. Manche auf den Terrassen bleiben sitzen. Sie hören nur verwundert der religiösen, unüberhörbar erotisch aufgeladenen Inbrunst zu, die da aus ihresgleichen herausbricht. Die Religion scheint ein unausrottbar irrationaler Teil der menschlichen Natur zu sein, wir alle wollen unsere Feinde zerschmettern, und zumindest Männer begehren die Jungfrau und Mutter Gottes. Nur davon spricht diese Musik in immer neuen, berückend wohlklingenden Formen, mal feierlich gesetzt, mal in exaltierten Figuren ausschweifend.

Leider hat das allein Jacobs und Perceval noch nicht genügt. Um uns jede Erinnerung an die Liturgie auszutreiben, haben sie ein berühmtes Stück aus dem 8. Madrigalbuch von Monteverdi in diese doch ohnehin schon verweltlichte Messe eingefügt: „Il Combattimento di Tancredi e Clorinda“, die Vertonung einer Episode aus Torquato Tassos Versepos „Das befreite Jerusalem“. Thematisch gehört die Legende des Kreuzritters, der seine geliebte Ungläubige tötet, weil sie ihn als Ritter verkleidet zum Kampf herausfordert, derselben Gegenreformation an. Aber auseinandergerissen zwischen den Messeteilen geht die originelle Form der Schilderung des Zweikampfs und der nachfolgenden Taufe der Sterbenden verloren. Perceval scheint das nicht zu stören. Er möchte uns mit allen Mitteln beibringen, dass in diesem Christentum Gewalt und Sex eines sind und Erlösung nur im Tod möglich ist. Neu ist das nicht gerade. Außerdem hält er es für nötig, in die Versammlung auf den Terrassen die Pantomime einer schönen Frau einzuführen. Ein Symbol des Eros offenbar. Zunächst in weißem Rock geht sie küssend, umarmend und liebkosend durch die Reihen, später schreitet sie nackt, nun aber ohne Berührungen, die Terrassentreppen empor, bis sie schließlich zu den letzten Tönen des „Combattimento“ in den Bühnenhimmel entschwindet.

Mit den Worten der toten Getauften lässt auch Jacobs seine „Marienvesper“ enden. Das ist schade, denn sein Ensemble spielt Monteverdi und bewundernswürdiger Stilsicherheit und Perfektion. Aber mit der buchstäblich nackten Seele, die zum Himmel emporsteigt, kehrt die tote Liturgie doch wieder zurück – als schlichter Kitsch. Trotzdem schier endloser, einhelliger Applaus in der Premiere.