Arbeit am Patriarchen

Irene Berkels Buch „Missbrauch als Phantasma“ korrigiert zwar den biologistischen Generalverdacht gegen Männer, setzt dafür aber die Psychoanalyse als Welterklärungsschule und absolute Instanz ein

Die Berufung auf die Werte der Familie funktioniert nicht mehr als Gegenwelt zu Sex and Crime

von INES KAPPERT

Missbrauch – wir wissen es alle – ist ein heikles, da hoch emotionalisiertes und allzu leicht zu skandalisierendes Thema. Deswegen lieben es die Medien auch so sehr. Seitdem Anfang der 1980er-Jahre die aus den USA „importierte Sensibilität“, wie Irene Berkel in ihrer Studie „Missbrauch als Phantasma“ süffisant anmerkt, auch Europa erreicht hat, ist das Interesse an Geschichten von triebgeleiteten Männern, die Kindern ihre Bedürfnisbefriedigung brutal aufzwingen, nicht abgerissen. Was also macht diese Szenarien, insbesondere für nicht direkt Betroffene, so dauerhaft attraktiv? Wie kommt es, dass eine aufgeklärte Gesellschaft nicht aufhört, sich für die pädophilen Neigungen ihrer Mitmenschen zu interessieren – und doch der Erkenntniszuwachs etwa über die Motivation der mehrheitlich männlichen Täter eher gering ist?

Für Berkel spiegelt das beharrliche mediale Interesse an Missbrauchsdelikten ein sich krass veränderndes Verhältnis der Generationen untereinander wider. Missbrauch, so ihre Generalthese, wird zum Phantasma einer Gesellschaft, die aufgrund ihrer Versessenheit auf Jugendlichkeit einerseits und der zunehmenden erotischen Besetzung von Kindern andererseits die Differenz zwischen den Generationen zusehends einschrumpft. Wenn Kinder wie Erwachsene jeweils dem Diktat der erotisierenden Selbstdarstellung unterworfen werden, dann führt das zwangsläufig zu einer Sexualisierung von Eltern-Kind-Beziehungen. So gesehen symbolisiert die Lust am Missbrauchsdiskurs ein Abarbeiten am Nichtfunktionieren von Familie als verlässlicher Gegenwelt zu Sex and Crime.

Natürlich steht die Institution der patriarchal gestrickten Kleinfamilie schon länger unter Beschuss. Die 68er-Bewegung etwa hat mit ihrer Kritik, sie sei strukturell repressiv und lustfeindlich, ihren Ruf glücklicherweise schon vor knapp 40 Jahren beschädigt. Doch bei der aktuellen Missbrauchsthematik geht es um mehr. So erodieren die neuen Reproduktionstechnologien wie die In-vitro-Fertilisation gemeinsam mit der Möglichkeit zur Geschlechtsumwandlung und der mancherorts verkündeten Vision, zukünftig besser der Gentechnologie die menschliche Fortpflanzung zu überantworten, nachhaltig die Vorstellungen von Vater und Mutter als unhintergehbare Voraussetzung von Leben. Das führt zu einer großen Verunsicherung, für die es Ventile braucht und Schuldige gefunden werden müssen. Die Aufregung über lüsterne Väter und abwesende Mütter muss daher auch als Entlastungsdiskurs gelesen werden. Zumal er auch erlaubt, (familiäre) Gewaltverhältnisse zu privatisieren. Was zuvor als Gesellschaftskritik an patriarchalen Strukturen und ihrem repressiven Kern formuliert wurde, kann nun gleichzeitig einzelnen Individuen und – nicht weniger essenzialistisch – einem ganzen Geschlecht qua Gendisposition zur Last gelegt werden. Es ist kein Zufall, dass es vielfach darum ging, Männer unter einen Generalverdacht der Täterschaft zu stellen sowie Männlichkeit als Gefahrenquelle per se zu verkaufen. Letzteres wiederum hatte auch den unschlagbaren Vorteil, dass Frauen quasi naturgemäß auf die Gegenseite sortiert und damit pauschal entschuldet werden konnten. Der Missbrauchsdiskurs passt sich perfekt in eine allgemein auszumachende Tendenz ein, gesellschaftliche Fragestellungen zu biologisieren.

Die Stärke von Berkels Auseinandersetzung liegt darin, gegen solche die Gewalttat nur instrumentalisierende Entlastungsdiskurse mit großer Wucht und Präzision anzuschreiben. Das Problem der Studie liegt anderswo und offenbart sich am deutlichsten bei der Auseinandersetzung mit der fiktionalen Bearbeitung von übergriffigen Vätern.

Zur Debatte stehen drei thematisch passende Kinofilme: Das „Fest“ (1998) von Thomas Vinterberg, dazu „Twin Peaks. Fire Walk With Me“ (1992) von David Lynch und „Die Verdammten“ von Lucino Visconti (1969). Angesichts des betriebenen theoretischen Aufwands überrascht die Dogmatik, mit der Berkel nonchalant von den Filmemachern einfordert, dass diese ihre These bitte ordentlich illustrieren sollten. Sie unternimmt hier eine unverständliche Reduktion auf ein inhaltliches Motiv, das die Filme mit ihren komplett unterschiedlichen Ästhetiken und Inszenierungen von Wirklichkeit nicht ernst nimmt und eine Vergleichbarkeit behauptet, die so nicht gegeben ist. Visconti immerhin versucht eine neorealistische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, Vinterberg steht für eine Bewegung der 90er-Jahre, die die Frage nach der Abbildung von Realität im Kino neu aufwirft, Lynch schließlich arbeitet mit einer enormen Stilisierung, um reelle Konfliktlagen sichtbar und spürbar zu machen. Diese kategorialen Unterschiede aber interessieren Berkel kaum.

Entsprechend ist sie mit Vinterberg wenig zufrieden. Schlägt dieser doch seiner vom Vater missbrauchten Hauptfigur den Bruch mit der Familie vor und legt ihr nicht etwa das Freud’sche Prinzip der Wiederholung und Durcharbeitung ans Herz. Über eine mögliche Trauer von Christian erfahren wir auch nichts, nur von seiner aggressiven Hilflosigkeit. Damit agiere er nicht auf der Höhe des Gegenstands, befindet Berkel. Lynch kommt dank seines Interesses, die Welt von Traum und Trauma zu inszenieren und mit einer Medienkritik zu verbinden, schon deutlich besser weg. Für ihn sei die „paranoide Allgegenwart“ des Inzests ein Indiz für eine Welt, die ihren Mitgliedern keine symbolischen Sicherheiten mehr anbieten kann und sie entsprechend in die Situation des totalen Realitätsverlusts stürze. Lynch wird als Kulturpessimist gelesen und hierfür wertgeschätzt. Visconti erfährt großes Lob, da er den psychischen Prozessen eine Eigendynamik jenseits von Politik und Ökonomie angedeihen lässt. Die Psychoanalyse als zur In-vitro-FertilisationWelterklärung prädestinierte Denkschule sieht sich bestätigt, und alles ist gut.

In dieser Haltung liegt das Nervige an Berkels ansonsten erhellender Studie. In aller Autorität werden die Prädikate „Ungenügend“, „Befriedigend“, „Sehr gut“ vergeben; Zweifel an der Psychoanalyse sind nicht denkbar. Das aber verwandelt eine wichtige theoretische Methode in eine Ersatzreligion. Und darum kann es ja wohl nicht gehen.

Irene Berkel, „Missbrauch als Phantasma. Zur Krise der Genealogie“. Wilhelm Fink, 2006, 181 Seiten, 29,90 €