Eine oder zwei Taten?

Heute beginnt der Prozess gegen zwei Männer, die vor zehn Monaten in Potsdam Ermyas M. ins Koma geprügelt haben sollen

VON ASTRID GEISLER

Sechs rechtsextreme Gewalttaten sind in der offiziellen Statistik des Landes Brandenburg für den April 2006 aufgelistet. Das Schicksal des Ermyas M. (38) trägt die Nummer vier. Man könnte den Fall leicht überblättern, wäre da nicht ein Sternchen am Rand der Tabelle, das ihn von den anderen unterscheidet. Es verweist auf das Kleingedruckte der Statistik: Die Klassifizierung dieser Tat müsse im „weiteren Verfahrensgang“ noch geklärt werden, steht da. Was so lapidar klingt, birgt politischen Zündstoff.

Heute beginnt vor dem Potsdamer Landgericht der Prozess um den Angriff auf den Deutsch-Äthiopier Ermyas M. in der Osternacht 2006 – eine Gewalttat, die im vergangenen Jahr eine hitzige Debatte über Rassismus und No-go-Areas in Ostdeutschland entfachte. Die Richter sollen klären, worüber Ermittler und Politiker einige Wochen stritten: Was genau geschah an der Tram-Haltestelle Charlottenhof in Potsdam? War der Angriff auf den Doktoranden der Agrartechnik ein fremdenfeindliches Verbrechen – oder eine unpolitische Schlägerei unter Betrunkenen? Im Kern geht es um die Frage: Wo fängt Rassismus an in unserem Land?

Der Fall Ermyas M. hat seit vergangenem April die vermeintliche Eindeutigkeit verloren und für einige Überraschungen gesorgt. Generalbundesanwalt Kay Nehm hatte gegen die zwei Tatverdächtigen Björn L., 29, und Thomas M., 31, zunächst wegen versuchten Mordes aus fremdenfeindlichen Motiven ermittelt. Vor Gericht muss sich Björn L. nur noch wegen gefährlicher Körperverletzung verantworten, Thomas M. wegen unterlassener Hilfeleistung. Beiden wird außerdem Beleidigung vorgeworfen. Von rassistischen oder rechtsextremen Motiven ist in der Anklage keine Rede mehr.

Der Rechtsanwalt Thomas Zippel will dafür sorgen, dass das Gericht diese Sichtweise verwirft. Er vertritt Ermyas M. im Prozess als Nebenklageanwalt. Zippel bestreitet, dass sein Mandant in eine gewöhnliche Schlägerei verwickelt wurde: „Das war es nicht, und ich denke, das wird sich vor Gericht auch so herausstellen“, sagte Zippel der taz.

Die Beweisführung vor Gericht wird jedoch nicht einfach werden. Trotz monatelanger Ermittlungen, DNA- und Stimmgutachten sowie vieler Zeugenaussagen ist bislang die Beweislage insgesamt ziemlich dünn. Daraus macht auch Verteidiger Zippel kein Geheimnis. Der Angeklagte Björn L. – wegen seiner hohen Stimme von seinen Freunden „Pieps“ genannt – bestreitet genau wie Thomas M. alle Vorwürfe. Beide versichern, in der Osternacht überhaupt nicht am Tatort gewesen zu sein.

Ermyas M. soll zwar als erster Zeuge bereits am Freitag vor Gericht aussagen, zur Klärung des Falles kann er selbst allerdings vermutlich nicht allzu viel beitragen. Der Vater zweier Kinder lebt zwar wieder bei seiner Familie und hat sich einigermaßen erholt. An das Geschehen in der Osternacht könne Ermyas M. sich wegen der schweren Gehirnverletzungen jedoch bis heute nicht erinnern, sagt Anwalt Zippel. Eine Nachvernehmung des Ingenieurs kurz vor Prozessbeginn habe dies nochmals bestätigt.

Dem Gericht dürfte also allein die Klärung der Täterschaft einige Mühe bereiten – von der genauen Rekonstruktion des Geschehens in der Osternacht ganz zu schweigen. Nach Darstellung der Staatsanwaltschaft sollen die zwei Angeklagten Ermyas M. im Zuge eines Streits gegen vier Uhr morgens an der Tram-Haltestelle als „oller Nigger“ und „Scheißnigger“ angepöbelt haben. Der Doktorand sei beiden gefolgt. Kurz darauf sei der Streit wieder aufgeflammt, Ermyas M. habe versucht, Björn L. – wie es die Juristen formulierten – „ins Gesäß zu treten“. Björn L. habe sich daraufhin umgedreht und Ermyas M. aus der Drehung heraus mit der geballten Faust derart heftig gegen das linke Auge geschlagen, dass er zu Boden ging und reglos liegen blieb. Statt dem Verletzten zu helfen, hätten sich die Angeklagten aus dem Staub gemacht.

Das Fazit der Ermittler gab die Bundesanwaltschaft schon im Mai zu Protokoll: Die Tat habe sich in zwei Abschnitten ereignet – zunächst habe eine Pöbelei stattgefunden und später, etwa 50 Meter entfernt, die Schlägerei. Die „nachweislich fremdenfeindlichen Äußerungen der Täter“ stünden daher „weder räumlich noch zeitlich in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Niederschlagen des Opfers“.

Nebenklageanwalt Zippel hält diese Interpretation für abwegig. Er sagt: „Es würde doch jeder Lebenserfahrung widersprechen, wenn wir davon ausgingen, dass die Hautfarbe des Opfers nicht diese Tat bedingt hat.“ Auch Ermyas M. glaubt nach wie vor, dass er an der Trambahn-Haltestelle nicht zufällig angegriffen wurde. Seine Erfahrung sage ihm: „Diese Leute hassen mich, weil ich farbig bin.“ Es ärgere ihn deshalb, wenn Politiker immer noch behaupten, ausländische Gäste könnten „ohne Angst“ nach Brandenburg kommen und dort „sicher leben“. Kay Wendel vom Potsdamer Verein „Opferperspektive“ sieht das ebenso. Der Fall sei – von den besonders schweren Verletzungen des Opfers abgesehen – „Brandenburger Standard“: „Die Tat zeigt die absolute Unberechenbarkeit rassistischer Gewalt.“

Den Ermittlungen zufolge gehörte keiner der Angeklagten zur organisierten rechtsextremen Szene. Thomas M. war von Kennern des rechten Spektrums in Potsdam zunächst für einen Rechtsradikalen mit dem Spitznamen „Hitler“ gehalten worden – ein Irrtum. Es handelte sich um einen Namensvetter. Im Auto von Björn L. wurden allerdings einige Rechtsrock-CDs gefunden, die als „Hardcore“ gelten.

Das Landgericht hat für den Prozess, dessen Beginn wegen der Erkrankung eines Richters zweimal verschoben wurde, zunächst 17 Verhandlungstage angesetzt. Dutzende Zeugen sollen vernommen werden. Ermyas M. vertraut auf die Arbeit der Richter: „Ich glaube daran, dass die Justiz die richtige Strafe findet.“