Bloß kein Knecht sein

Egal ob in Kreuzberg, Hellersdorf oder Goa – die Wirklichkeit bietet viel Stoff für junge Filmemacher. Sehenswerte Dokumentarfilme prägen in diesem Jahr die Sektion Perspektive Deutsches Kino

VON DIETMAR KAMMERER

Als Ende Januar erstmals ein Dokumentarfilm den Hauptpreis des Max-Ophüls-Festivals in Empfang nehmen durfte, konnte das nur diejenigen überraschen, die in den vergangenen Jahren im Kino ihre Augen und Ohren fest verschlossen hielten. Die erst im Jahr zuvor getroffene Entscheidung der damals frischgekürten Festivalchefin Birgit Johnson, für den Saarbrücker Wettbewerb endlich auch nichtfiktionale Formate zuzulassen, war angesichts der rasant gestiegenen Bedeutung dokumentarischer Langfilme längst überfällig. Da war die Perspektive Deutsches Kino immer schon einen Schritt weiter. Die 2002 eingerichtete Debütfilmsektion der Berlinale, die wenige Wochen nach Saarbrücken immer etwas im Schatten des größeren und älteren Filmfestes zu stehen scheint, fördert seit ihrer Einrichtung bewusst Filme, die ihre Geschichten und Figuren im realen Leben finden. In diesem Jahr sind die Dokumentationen die stärksten Beiträge des Programms. Und noch ein schöner Trend wird ablesbar: Acht der insgesamt zwölf Kurz-, Spiel- oder Dokumentarfilme der Sektion stammen von Regisseurinnen.

Zum Beispiel „Osdorf“ von Maja Classen, eine Beobachtung über Alltag und Ansichten Jugendlicher aus der gleichnamigen Hochhaussiedlung im Hamburger Westen. „Alle, die hier leben, werden Osdorf-Fanatiker“, meint ein Lokalpatriot. „Man verkackt hier“, hält ein Skeptiker dagegen. Der Film beleuchtet mit viel Feingefühl das Leben von Jugendlichen, von denen die meisten ein beeindruckendes Vorstrafenregister aufweisen können. Raub, Autodiebstahl und anderes kriminelles Verhalten dienen hier weniger der materiellen Bereicherung. Wichtig ist vor allem, sich „einen Namen“ zu machen, um in den Augen der anderen kein „Knecht“ zu sein. Obwohl sich die männlichen Jugendlichen in ihren Machoattitüden gefallen, gelingt es Maja Claasen, das Vertrauen ihrer Protagonisten zu gewinnen und ihnen immer wieder erstaunliche Aussagen darüber abzugewinnen, was sie sich unter einem gelungenen Leben vorstellen.

Davon, was nach der Jugend sein wird, was sein könnte oder sollte, handelt auch „Prinzessinnenbad“ von Bettina Blümner. Drei Freundinnen aus Kreuzberg stehen hier im Mittelpunkt. Blümner hat sie über einen so langen Zeitraum begleitet, dass das Gemeinsame, aber auch die beginnende Veränderung in Interessen und Lebenswandel der Mädchen deutlich werden. Klara findet türkische Jungs unbedingt cooler als deutsche, obwohl oder gerade weil diese manchmal „echte Arschlöcher“ sind. Mina hilft ihrem Vater in der Kneipe. Ihr neuer Freund ist schon 20, was gut ist, weil die 15-jährigen Jungs zwar ihr Alter, aber nicht ihre Reife haben. Tanutscha kann sich nicht vorstellen, dass sich nach der Schwelle zum Erwachsenwerden viel ändern wird: Geld zu verdienen, aber weiterhin frei zu leben und Partys zu machen, gehört zum festen Plan. Und: „Ich werde mir nix im Ökoladen kaufen. Weil ich Öko Scheiße finde.“

Abseits vom Berliner Stadtzentrum lebt in einem Hellersdorfer Plattenbau Dominik, der achtjährige Held von „Zirkus is nich“ von Astrid Schult. Er hat zwei Geschwister und eine Mutter. Die kümmert sich um das Neugeborene, er um seine drei Jahre alte Schwester. Der nur 45-minütige Film ist ein Wunder an Einfühlsamkeit und sicherem Gespür im Porträt einer schwierigen Familiensituation und einer Kindheit, in der die eigenen Wünsche mit den auferlegten Verantwortungen im Konflikt liegen.

Dabei nimmt „Zirkus is nich“ konsequent die Perspektive des Kindes ein: Und so lernt man staunend, wie selbstbewusst und unverwüstlich, aber auch mit welchen Problemen sich ein Achtjähriger in einer Situation zurechtfindet, die in den Medien pauschalisierend unter „Kinderarmut“ abgehandelt wird. Ein Plädoyer, denen zuzuhören, die von staatlichen Institutionen und der Öffentlichkeit oft als hilfsbedürftig, aber nie als vollwertige Beteiligte mit Rechten und Wünschen angesehen werden.

Es müssen aber nicht immer soziale Brennpunkte sein. Marcel Wehns „Von einem, der auszog – Wim Wenders frühe Jahre“ ist ein klassisch gestricktes, biografisches Porträt des Regisseurs, das sich vor allem auf dessen Anfangszeit im deutschen Kino konzentriert, bevor mit dem Erfolg von „Der amerikanische Freund“ (1976/ 1977) Wenders’ internationale Karriere begann. Neben dem Titelhelden kommen viele Freunde und Weggefährten zu Wort.

Semidokumentarisch erzählt ist „Hotel Very Welcome“ von Sonja Heiss. Der Film verfolgt die unterschiedlichen Wege von fünf Touristen, die in Thailand und Indien zwischen Rave und Yoga, zwischen Langeweile und Sinnsuche, zwischen Flucht und Frustration unterwegs sind. Enttäuschte Goa-Touristen erfahren, dass man von Einheimischen immer nur wegen seines Geldes angesprochen wird, laufen in violetten Gewändern durchs Wellness-Hotel und wollen ihr Sexual-Chakra entfesseln. Ein junger Brite, der in einer Bar über Satellitenfernsehen eben den Sieg seines heimischen Fußballvereins mitverfolgt hat, brüllt betrunken und einsam „Liverpool, Liverpool!“ durch die leeren Straßen. Liam, ein Ire, bemüht sich redlich um Kontakt mit den Einheimischen, weil er eines Tages nach Indien auswandern will, wie er immer wieder versichert. Vielleicht aus Liebe zum Land, vielleicht auch nur, weil zu Hause ein neugeborenes Kind auf ihn wartet, das er nicht gewollt hat.

Ganz gleich ob in exotischen Ländern oder vor der eigenen Haustür: Im Realen findet das junge Kino zur Zeit seine besten Anregungen und Stoffe.