Literatur als nationale Ersatzhandlung

Elke Brüns’ Analyse des Wenderomans erinnert an die heftigen Debatten, als die Literatur die gespaltene Nation einigen sollte, und bietet einen neuen Blick auf sie. Sie erklärt, warum Biederkeit, Konventionalität und Deutschtümelei unvermeidbar sind, wenn Literatur das „nation-building“ besorgen soll

VON INES KAPPERT

Der Wenderoman. Erinnern wir uns: Gut fünfzehn Jahren hat er und mehr noch sein Ausbleiben die Republik umgetrieben. Immer wieder forderte das Feuilleton im Schulterschluss mit der Politik den fürs nation-building tauglichen Text und verstrickte sich in heftige Diskussionen.

Die Literaturwissenschaftlerin Elke Brüns bietet in ihrer Habilitationsschrift „Nach dem Mauerfall. Eine Literaturgeschichte der Entgrenzung“ eine sorgsame und durchweg wohlwollende Relektüre der damals heiß diskutierten Romane und leistet damit eine interessante Geschichtsaufarbeitung.

Brüns zeichnet nach, wie und warum letztlich nicht Christa Wolf und auch nicht Günter Grass, sondern Vertreter der jüngeren Generation das Rennen um die Versöhnung stiftenden Wendefiktion gewannen, hier natürlich allen voran Thomas Brussig mit „Helden wie wir“ (1995). Dadurch nämlich, dass Brussig gegenläufige, in der deutschen Öffentlichkeit herumschwirrende Begehrlichkeiten einzufangen wusste, war sein um den stetig wachsenden Penis des Ich-Erzählers kreisender Roman nicht einfach nur postpubertäre Jungsprosa. Indem der Ich-Erzähler namens Klaus Uhltzscht sich selbst als Verursacher des Mauerfalls imaginiert, ohne dies vorher mit Christa Wolf, „mit ihr abzustimmen“, ironisiert er die zum Scheitern verurteilte Suche nach dem heroischen Subjekt der Revolution und vollzieht gleichzeitig den Mord an der nationalen Übermutter. Mehr noch: Brussig öffnet grenzüberschreitende Identifikationsräume. Denn mit der Figur des Spießers Uhltzscht karikiert und bedient er die im Westen beliebte Häme gegen die Bürgerrechtsbewegung ebenso wie er sich über die kleinbürgerlichen Freiheits- und Ermächtigungsfantasien lustig macht, die sich im Kaufrausch vieler Ostdeutscher – nicht zuletzt bei Beate Uhse – Bahn brachen. Er persifliert also die sarkastische Analyse von Heiner Müller, dass „der versäumte Angriff auf die Intershops … in den Kotau vor der Ware“ gemündet ist.

Doch so willig das Publikum Brussigs Verhandlungen der deutschen Einigung annahmen, die Kritik riss nicht ab. Denn während die Öffnung der Mauer die Wirklichkeit unvermutet drastisch veränderte, zeichneten sich in der mit dem Ende der DDR und der neuerlichen Nationenbildung in Deutschland befassten Literatur keine ähnlich bahnbrechend neuen Erzählmuster ab. Im Gegenteil. In Sachen Ästhetik – auch hierfür ist Brussig exemplarisch – fielen die ab Mitte der 90er Jahre produzierten und durchweg von deutschtümelnder Biederkeit geprägten Texte weit hinter einer deutlich aufregendere Realität zurück. Entsprechend musste die bildende Kunst einspringen – 1995 in Form des verhüllten Reichstags. Für Brüns bot das Ehepaar Christo dem kollektiven Gedächtnis ein erstes akzeptables Bild an, das die Abwehr und die Wiederbelebung einer nationalistischen Symbolik dokumentiert und doch auch Fläche für nicht nationalistisch gebundene Projektionen bietet.

Gerade diese Verbindung von Eingreifen, Umcodieren, Erinnern und Visionieren, und zwar in einer entsprechenden ästhetisch avancierten Form, fehlt in der mit dem Mauerfall befassten Literatur mehrheitlich. Ja, so Brüns Eingangsthese, die Wendeliteratur ist konventionell. Warum aber greifen die LiteratInnen auf so konventionelle Erzählstrategien zurück, so als ob es Kafka, Rolf Dieter Brinkmann oder die von der Diskursanalyse angestoßene Kritik am Ursprungs- und Einheitsdenken nie gegeben hätte? Warum allegorisieren sie die Gesellschaft im Bild der Kleinfamilie, verleiblichen die geteilte Nation als getrenntes, natürlich heterosexuelles Paar oder metaphorisieren die Krise beziehungsweise den Tod der DDR in der Krankheit beziehungsweise dem Tod der Mutter?

Weil, so Brüns Antwort, das die klassischen literarischen Verfahren sind, die schon in der deutschen Romantik zur Anwendung kamen, also in einer Zeit, in der das „deutsche Volk“ zum ersten Mal erfunden wurde. Im Zuge dessen wurde das Land mit der Mutter assoziiert, und damit Ersteres blühen konnte, musste Letztere sterben. Man denke nur an Novalis – und dann auch schon wieder an Christa Wolfs „Leibhaftig“ (2002). „Ich höre mich sagen, Sie sind in Prag einmarschiert. Und höre meine Mutter flüstern: Es gibt Schlimmeres … Sie stirbt“, heißt es dort. Nachgefragt werden sie dann, wenn die Fiktion Geschichten für eine nationale Verbundenheit liefern soll, die realiter nicht gegeben ist, aber von der Mehrheit für notwendig erklärt wird. Wenn also die Nation als imagined community ein Wunschbild und eben nicht Wirklichkeit ist. Das Verdienst von Brüns ist es, dass sie Ruhe und Rationalität in eine bis heute emotional explosive Debatte bringt. Gleichzeitig bleibt die Schalheit, die mittelmäßige Literatur und die Endlosdebatte um deutsche Identität nun mal produziert.

Elke Brüns, „Nach dem Mauerfall“. Eine Literaturgeschichte der Entgrenzung, Wilhelm Fink Verlag 2006, 315 S., 39,90 Euro