Sprachlos in der ersten Klasse

Ein Viertel der Schulanfänger und zwei Drittel der Einwandererkinder können dem Unterricht nicht folgen. Ändern kann das nur eine konzertierte Aktion aller Beteiligten

Bereits drei oder vier radebrechende, stockende Schüler binden die Kräfte einer Lehrkraft

Der Begriff der organisierten Verantwortungslosigkeit geistert schon seit längerem durch die Wissenschaft. Mitte der 80er verwendete der Soziologe Ulrich Beck den Terminus, um den scheinbar zufälligen Umgang mit Umweltgiften als planvolles Zusammenwirken zu demaskieren. Bürokraten, Politiker, Wissenschaftler und die Öffentlichkeit arbeiteten so zielgerichtet zusammen, dass am Ende Grenzwerte entweder aufgeweicht oder gar nicht erst aufgestellt werden. Für Beck war es prägendes Moment der Risikogesellschaft, dass am Ende jeder Einzelne der Beteiligten mit einigem Recht seine Hände in Unschuld waschen konnte: „Ich bin nicht verantwortlich.“

Nun tritt das Phänomen wieder auf – nur geht es diesmal nicht um Gifte und Grenzwerte, sondern um Menschen: um Kinder und besonders um Kinder von Einwanderern. Sie werden Opfer einer organisierten Verantwortungslosigkeit, und wieder ist es kein böser Zufall, sondern ein böses Zusammenspiel aller Beteiligten. In Berlin wurde gerade bei „Deutsch Plus“, einem Test zur Sprachfähigkeit künftiger Grundschüler, diagnostiziert, dass ein Viertel erheblichen Förderbedarf hat. Was das bedeutet? Eine gesellschaftliche Katastrophe. 24 von 100 Berliner Schulanfängern können sich nicht gut genug artikulieren, um dem Unterricht zu folgen. Auf Deutsch: Sie sind nicht schulfähig. Die Hauptstadt ist eines von wenigen Bundesländern, das überhaupt misst, wie es mit den Schulanfängern steht. Nordrhein-Westfalen hat eben beschlossen, den Sprachcheck für Vierjährige einzuführen – im Jahr fünf nach Pisa.

Sieht man sich die Zahlen genauer an, so kann man das ganze Ausmaß des bildungs- und gesellschaftspolitischen Skandals ermessen, den die Länder nicht sehen wollen. 6.068 der 25.000 getesteten Berliner Abc-Schützen der im August bevorstehenden Einschulung sind von Sprachlosigkeit befallen. In einzelnen Bezirken ist die Situation dramatisch. Im Rütli-Bezirk Neukölln etwa sind 45 Prozent der Kinder Zurückgelassene. Unter den Migrantenkindern sind es sogar 67 Prozent, die nicht gut genug für die Schule sprechen können. Aber auch bei den deutschen Eingeborenen wird jedes zehnte Kind nicht in der Lage sein, am Unterricht in der ersten Klasse mühelos teilzunehmen.

Jeder der Beteiligten weiß, was es bedeutet, wenn einem Viertel eines Schülerjahrgangs diagnostiziert wird, dass es sich mit Lehrern und Erziehern nicht austauschen kann. Es heißt: Jedem einzelnen dieser jungen Menschen wird versperrt, sich an systematischen Lernprozessen zu beteiligen. Es ist damit freilich jeder Schule verwehrt, die ein bestimmtes Maß dieser Risikoschüler aufweist, ihrer Funktion nachzukommen. Bereits drei oder vier radebrechende, stockende Schüler können die Kräfte einer Lehrkraft derart binden, dass an ein geregeltes Fortkommen des Restes der Klasse gar nicht mehr zu denken ist. Und obwohl das bekannt ist, handelt niemand wirklich.

In Berlin hatte vor ein paar Jahren der Vorgänger von „Deutsch Plus“, der „Bärenstarktest“, die Stadt noch in helle Aufregung versetzt. Damals erregte sich die Öffentlichkeit über den Skandal, dass ein Viertel ihrer Kinder gar nicht sein können, was sie bald werden sollen: Schüler. Inzwischen geht die Stadt darüber hinweg. Der zuständige Bildungssenator zeigt sich froh, dass es um zwei Prozentpunkte besser geworden sei. Man dürfe dennoch nicht nachlassen in seinen Anstrengungen – was immer er damit meint.

Die Zeitungen schoben den Skandal auf die hinteren Seiten ihrer Lokalteile. Und sie tun etwas, was Ulrich Beck schon vor 20 Jahren bei Umweltstandards beobachtete. Sie verschieben die Grenzwerte. „Jedes zehnte deutsche Kind spricht schlecht Deutsch“, war in Überschriften zu lesen. Die Migranten sind in dieser Zeile bereits ausgebürgert. Die Bürgergesellschaft müsste aufschreien, müsste sagen: Diese Menschen sind hier geboren, sie gehören zu dieser Gesellschaft, lasst uns alles tun, dass sie an ihr teilhaben können. Aber das geschieht nicht. Niemand sagt mehr laut und vernehmlich, was da eigentlich vor sich geht: Die Klassenfahrt hat begonnen – aber schon beim Durchzählen nach dem ersten Halt fehlen 24 von 100 Kindern. Aber niemand vermisst die Zurückgelassenen. Der Bus fährt einfach ohne sie weiter.

Das ist kein Zufall, sondern hingenommene, man kann sagen: absichtsvolle Politik. Zahllose Arbeiten weisen penibel nach, dass das Zurücklassen respektabler Teile der Schülerschaft ein Problem des Schulsystems ist. Im Falle der Migranten heißt das strukturelle Diskriminierung. Es gibt also nicht wie im Märchen einen bösen Lehrer, Schulrat oder Politiker, der am Schulbus steht und sagt: „Du Türke, du Unterschichtkind, dich lass’ ich nicht mehr mit! Du bleibst hier, gehst in die Haupt- oder Sonderschule, lässt dich später von Hartz IV mitschleppen.“ Nein, es ist das Zusammenspiel der Kräfte in einem selektiven Schulsystem, das organisierte Verantwortungslosigkeit kennzeichnet. Alle Akteure müssen mitspielen – das heißt eben nicht agieren –, damit es sich einspielt, damit der Skandal zur Normalität wird.

In Deutschland geschieht dies auf höchstem Niveau. Gerade um die Migranten macht man sich Sorgen – offiziell. Migrationsgipfel werden selbst im Kanzleramt einberufen, an denen Innen- und Schulminister und alle möglichen Experten teilnehmen – um festzustellen, dass (Achtung Föderalismus!) keiner der Anwesenden zugleich zuständig und in der Lage ist, die Situation zu verändern. Geredet wird viel, gehandelt praktisch nicht.

Jedes zehnte deutschstämmige Kind ist nicht in der Lage, an der ersten Schulklasse teilzunehmen

Dabei könnte der Fahrplan längst klar sein. Wenn der Schulbus Richtung Sprachfähigkeit heute noch so viele Schüler stehen lässt, dann muss er künftig eben alle mitnehmen. Kein Kind darf zurückbleiben!, hieße die neue Politik. Sie reagierte darauf, dass die Lernwege von bildungsarmen Kindern zu spät beginnen und vielfach unterbrochen sind. Wenn man so will, müssen also die ersten Meter des Bildungssystems ausgebaut werden: die Sprachförderung in Kindergärten massiv gestärkt, der Übergang zur Schule begradigt und in den ersten Klassen der Grundschulen eine Anschubhilfe für langsamere Lerner installiert werden. Parallel dazu bräuchte es, das zeigen die Modellversuche, kulturelle Arbeit mit den Migranteneltern.

Es ist kein Geheimnis, wer das bezahlen und umsetzen müsste. Immer wenn die Länder eine Kompetenz für sich beanspruchen, die sie in Wahrheit gar nicht umsetzen können, kommt der Bund zu Hilfe. Das ist bei den Eliteuniversitäten so und bei den vernachlässigten Studierenden. Und so müsste es auch bei einem, nennen wir ihn: nationalen Plan für die Rechte benachteiligter Kinder sein. Was das kostet? Mehr als die Peanuts, welche die Länder derzeit für Migrantenbildung auszugeben bereit sind. Exzellenzinitiative und Hochschulpakt schlagen jeweils mit knapp zwei Milliarden Euro zu Buche. Viel weniger dürfte es auch nicht werden, wenn die Nation endlich Verantwortung für ihre zurückgelassenen Kinder übernimmt.

CHRISTIAN FÜLLER