Tugend im Geschenkkarton

Mehr als ein Abithema? In „Emilia Galotti“ wird Vatermacht zum Konfliktstoff, wie Aufführungen in Bonn und Bochum zeigen

von DOROTHEA MARCUS

Emilia Galotti überall. Weil Lessings politische Aufklärungstragödie in den NRW-Schulen Sternchenthema für das Zentralabitur ist, scheint es dort kaum ein Theater zu geben, das die traurige Geschichte vom durch Herrscherwillkür gefallenen Mädchen nicht im Spielplan hat.

Wenn man ermessen will, was uns das 1772 so politisch aufgefasste Drama heute überhaupt noch sagen könnte, kann man sich zwei Theaterbilder aus Bonn und Bochum vergegenwärtigen. In der Bochumer Aufführung von Tina Lanik schwankt Emilia Galotti (Hanna Scheibe) einmal wie eine haltlose Gummipuppe in den Armen des absolutistischen Prinzen hin und her und sinkt dann in eine hellblaue Holzkiste zurück. Deckel drauf, zum sexuellen Missbrauch zugerichtet – und gleichzeitig eine Frau in Geschenkverpackung. In Bonn dagegen, wo das Stück vor drei Wochen Premiere hatte, ist Emilia Galotti (Nina Weiß) eine dralle Blondine mit Engelslocken und Ballettkleid, die ihren Vater, kurz bevor er sie umbringt, kokett unter ihr Röckchen blicken lässt. Gewaltverbrechen versus Lebenshunger – die Bonner Aufführung von Kay Voges bringt die Emilia Galotti auf jeden Fall entschiedener in die heutige Zeit.

Trotz des so schön changierenden Kistenbildes scheitert die knapp 34-jährige Tina Lanik in Bochum daran, dass sie dem Stück lieb- und lustlos jede Aktualität verweigert, daran können weder pseudomoderne Regieeinfälle noch die mit schwebenden Wänden und glitzernden Glasscherben übersäte wunderschöne Bühne (Magdalena Gut) etwas ändern: Kein Ton wird hier getroffen, Emotion konsequent verweigert, sondern technisch – wenn auch versiert – abgespielt. Marinelli (Martin Horn) schwankt nachts betrunken mit Mondlampions durch die Gegend, um bei Dienstbeginn zum Todesverurteilen strammzustehen. Nachdem er den Grafen Appiani hat töten lassen, sitzt er als bräutliche Emilia verkleidet mit blutroten Handschuhen auf der Bühne. Ein Täter der unterdrückten Triebe, Süchte und Neurosen, wird hier behauptet – aber spürt man das schon, wenn Marinelli in jeder Szene eine andersfarbige Krawatte angelegt hat?

Der allmächtige Prinz (Klaus Weiss) ist ein Buchhalter mit Dramaturgenbrille und Designeranzug, der sich Krokodilstränen schluchzend im Glasstaub wälzt und dem man sein leibliches Begehren nie abnimmt, erst recht nicht, als er in ebenjenem Aufzug ungerührt von der mutmaßlichen Vergewaltigung zurückkehrt.

Wie anders dagegen der Bonner Prinz Raphael Rubino mit schwellendem Bauch und schwarzem Spitzenhemd, das er nach dem Besuch von Emilia nicht mehr trägt – ein ebenso verführerisches wie abstoßendes Wesen zwischen Lebemann und feistem Lustmolch. Kein Wunder, dass Emilia sich nicht für ihren blassen Grafen Appiani interessiert. Opfer ist sie nicht – stellvertretend dafür steht ein ausgestopftes Reh auf der Alu-Kasten-Bühne (Pia Maria Mackert), sondern ein neugieriges und pubertierendes Mädchen.

Bei der Verführungsszene schreitet Emilia ins helle Bühnenlicht wie zur Freiheit und in eine bessere Zukunft. Kein Wunder, dass sie ihren Vater zum Schluss nicht um ihren Tod, sondern um ihr Leben anfleht – während die blasierte Bochumer Emilia selbst in Todesnähe matt und schön auf dem Prinzenthron ruht und wie gleichmütig um ihre Ermordung bittet.

Sicher ist man in Bonn zu sehr dem vermeintlichen Schülergeschmack entgegengekommen, hat das Stück zu verschwenderisch mit illustrativer Sex-Pistols-Musik („Who killed Bambi?“) begossen und etwa Marinelli zur Witzfigur verkürzt. Und doch wird hier der Versuch gemacht, sich der einzigen Frage zu nähern, die die Tragödie der Emilia Galotti heute interessant machen könnte: welchen Preis man für welche Tugend zahlt und welche Rolle Morde zur Rettung der Tugend, man könnte auch Ehre sagen, in unserer Gesellschaft immer noch spielen. Das ist so viel mehr als gelangweiltes Großtheater aus Bochum.