Von Mäusen und Menschen

Der Mensch ist mehr als Gene und Gehirn. Davon vermittelt die Forschung eine Ahnung DAS SCHLAGLOCH von MATHIAS GREFFRATH

Der Glanz der Gene verblasst im Licht der Entwicklungsbiologie. Und das Gehirn ist ein soziales OrganKinder der Liebe würden gesünder und kräftiger, heißt es bei Kleist. Der Poesie gibt die Wissenschaft recht

Der Kodirektor des Human-Genome-Projects gestand es uns schon vor Jahren in einer New Yorker Bar: „Wir sind gezwungen, Gesundheitsfortschritt zu versprechen, und zwar innerhalb von zweimal vier Jahren. Das ist nämlich der Horizont von Politikern. Aber in der Medizin ist eigentlich nicht so viel zu holen; viel interessanter finde ich, dass die Gen-Analyse uns sagen kann, wo wir herkommen …“ Und der Molekularbiologe und damalige DFG-Präsident Winnacker verriet nach einem Interview im Auto, wie eine Forschung aussähe, die nicht mit Verwertungsversprechen um Mittel werben müsste: „Es wäre das Paradies …“

Himmelstürmend waren die Verheißungen der Genforscher: Erbkrankheiten und Krebs wollten sie besiegen und einige von ihnen sogar das Legasthenie-Gen finden. Wenig davon ist heute zu hören. Und nun erobert die Gehirnforschung mit wundersamen bunten Aufnahmen aus dem Inneren unserer Schädel die populären Magazine. Durchaus demütig äußern sich die führenden deutschen Neurowissenschaftler: Die Funktionsweise komplexer Gehirnprozesse sei noch weithin unaufgeklärt, dazu brauchten sie bessere Computer und Scanner. In Aussicht stellten sie, im Gegenzug, wirksamere Medikamente für Alzheimer- und Parkinson-Patienten, für Geistes- und Gemütskranke.

Nichts gegen Medikamente. Wenn sie Leiden lindern und nicht nur – wie die Ritalin-Schwemme – Zivilisationsschäden kompensieren. Vor allem nichts gegen den Wissensdurst. Denn der könnte uns Menschen auch auf ganz andere Weise helfen: Vor einigen Wochen hörte ich einen Vortrag des Gehirnforschers Gerald Hüther. Auch er projizierte Gehirn-Scans, die zeigten, wie irrwitzig wenige unserer zerebralen Möglichkeiten wir nutzen, wie formbar und verletzlich unsere Intelligenz ist, wie abhängig unser mentales Wachstum von Erfahrungen. Das alles unterschied ihn nicht von seinen Kollegen. Aber dann kam der Satz, der den Horizont verschob: „Die Gehirnforschung ist eine Sozialwissenschaft!“

Das Gehirn ist ein soziales Organ. Und Leben ist Lernen. Schon lange vor der Geburt. Und nicht erst beim Menschen. Hüther projizierte zwei Gehirnschnitte südamerikanischer Esel: eines, der gut gefüttert im Stall stand und ab und zu Säcke schleppte. Und eines, der ausgebüxt war und mit einer Herde wilder Esel lebte: in Gemeinschaft, mit schwierigen Problemen konfrontiert, in fordernden Milieus. Sein Gehirn war am Ende deutlich größer als das seines angestellten Bruders.

Mäuse einer sanften Züchtungslinie, in den Uterus einer temperamentvollen Mäusemutter gepflanzt, kommen schon nervös auf die Welt – gibt man Ratten aus einer aggressiven Linie nach der Geburt einer sorgenden, ruhigen Mutter, formen sie ihren Charakter nach deren Vorbild. Menschenbabys beruhigen sich, wenn sie die Titelmelodie einer Soap Opera hören, mit der die Mutter sich während der Schwangerschaft entspannt hat – in dieser halben Stunde, so erinnern sie sich, ging es ihnen immer gut im Mutterleib.

So verblasst der Glanz der Gene im Licht der Entwicklungsbiologie. Vielleicht wird von ihrer determinierenden Rolle nur die Form unserer Nasen bleiben und die Länge unserer Beine.

Wenn der Mensch von den Umständen gebildet wird, dann kommt es darauf an, die Umstände menschlich zu bilden. Das ist ein Gemeinplatz. Interessant ist nur, dass nun die isolierende Naturwissenschaft vom Menschen uns mit Fotos aus dem Inneren unserer Seelenapparate „beweisen“ kann, dass der Humanismus – und seine Normen – ein Fundament in unserer Natur finden. Und da geht es um weit mehr als um Intelligenz. Kinder der Liebe, von Eltern ohne Zukunftsangst, werden gesünder und kräftiger – so steht es in Kleists „Brief an einen jungen Maler“. Das ist Poesie. Und nun kommt aus dem Magnetresonanztomografen die Bestätigung: Es stimmt.

Der Vortrag des Neurobiologen erinnert mich an einen anderen, den ich vor Jahren hörte. Der Molekularbiologe Gottfried Schatz erzählte den Beginn der Evolution: von der Ursuppe, in der gigantische Blitze zuckerähnliche Organismen erzeugten, von den ersten lebenden Zellen, die sich davon ernährten und nach Jahrmillionen verbrannten, weil sie zu viel Sauerstoff produzierten. „Bis auf diejenigen“, so strahlte der Referent, „die sich von sauerstoffresistenten Einzellern einfangen ließen, an die sie ihr Genom abgaben. Und diese jahrmillionenalten Zellen haben wir noch heute in unseren Lungen.“ Die in den ersten Zellen angelegte Fähigkeit zur Symbiose, zur Fusion, zur Kooperation sei die Grundlage unserer Existenz und unserer Freiheit: Die „Gnade unseres großen Genoms“ erlaube es uns, zu lernen, unsere Möglichkeiten auszuschöpfen. Darin läge die Menschenwürde.

Oder: die Würde des Lebens überhaupt. Und seine Schönheit. Ein alter Koreaner, Susumo Ohno, er hatte bedeutende Entdeckungen auf dem Gebiet der Geschlechtschromosomen des Menschen gemacht, fragte uns einmal: „Soll ich Ihnen das Mäuse-Gen vorspielen?“ Wir schauten verdutzt, er steckte eine Kassette in den Rekorder, und es erklang eine Musik wie von Brahms. Ohno hatte die angeblich nutzlosen Sequenzen der DNA, die „Junk-DNA“, in Musik transkribiert. Die Doppelhelix, so sagte er, spielt mit sich selbst: in poetischen Formen, in Triolen, in Palindromen.

Was diese Forscher mich lehren, ist die Möglichkeit einer „Wissenschaft vom Leben“, die das utopische Telos der Religion und die Formen der Poesie in Molekülen und Neuronen entdeckt. Wir können das Bindungshormon Oxytozin isolieren, die Botenstoffe analysieren, die Panikreaktionen der Zellen steuern oder die jahrmillionenalte Geschichte unserer Körper rekonstruieren. In unserer Zivilisation werden diese Erkenntnisse zum Bau immer neuer chemischer Krücken benutzt, die uns helfen, in der Welt, wie sie nun einmal ist, zurechtzukommen.

Sie könnten aber auch ganz anders wirken: Eine Embryologie, die nicht die Retortenzeugung perfektioniert, sondern mit Technik und Fantasie die vorgeburtlichen Erfahrungswelten nachvollziehbar macht; eine Biochemie, die uns nicht Oxytozinpräparate gegen Bindungsangst beschert, sondern auch etwas über Verhältnisse sagt, die Vertrauen in Menschen produzieren; eine Molekularbiologie, die uns erzählt, dass wir von weit kommen und noch weit gehen könnten, und damit den „mystischen Gefühlen“ der Religion eine reale Basis gibt.

Wir haben zwei Wissenskulturen, heißt es immer. Das stimmt, aber ich vermute, die Grenze verläuft nicht zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, sondern hängt davon ab, was wir wissen wollen von den gesellschaftlichen Verhältnissen, unter denen wir wissen wollen.

Es wird viel über die „Renaissance der Religion“ geredet. Aber es könnte ja sein, dass die frohe Botschaft nicht aus den abgelebten Transzendenzen kommt, sondern aus den Datensätzen der Tomografen und den Destillaten der Biochemie. Dass die Aufklärung nicht am Ende ist. Sondern wieder mal an einem Anfang.

Fotohinweis: Mathias Greffrath lebt als Publizist in Berlin