„Politik der Absonderung“

Dokumentation: Arme, Migranten und Behinderte werden durch das deutsche Schulsystem diskriminiert

Der vorläufige Bericht des UN-Sonderberichterstatters Vernor Muñoz umfasst mehr als 20 Seiten und ist in fast 100 Punkte gegliedert. Wir dokumentieren die wichtigsten Inhalte in Auszügen:

Deutschland verfügt über ein flächendeckendes öffentliches Bildungswesen und gehört zu den wenigen Ländern, die die Schulpflicht auf 18 Jahre heraufgesetzt haben. Auch die Einschulungsquote ist in allen Bereichen hoch. Hauptsächlich wegen der Vielschichtigkeit der Struktur des Bildungssystems gibt es jedoch einige Defizite, die zumeist mit den Schwierigkeiten zusammenhängen, denen sich Kinder bestimmter Randgruppen gegenübersehen, wie beispielsweise Kinder aus unteren sozialen Schichten, Kinder mit Migrationshintergrund oder Kinder, die mit Behinderungen leben; dadurch hat das Bildungssystem eine ausgrenzende Wirkung. […]

Der Sonderberichterstatter konnte feststellen, dass der Einstufungsprozess für die Schüler der unteren Sekundarstufe (der im Alter von zehn Jahren stattfindet) eine persönliche Beurteilung des Schülers durch Lehrer vorsieht, die für die Durchführung solcher Beurteilungen nicht immer ausreichend geschult sind. […]

Der Sonderberichterstatter geht davon aus, dass die zuständigen Bildungsbehörden möglicherweise der Sprachkompetenz der Schüler eine übermäßige und vorrangige Bedeutung einräumen. Dadurch entsteht ein diskriminatorischer Effekt für Schüler ausländischer Herkunft, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. […]

Es ist offenkundig, dass die frühe Einstufung Auswirkungen für weniger begünstigte Kinder und Jugendliche hat, also für Schüler aus armen Verhältnissen sowie Schüler mit Migrationshintergrund oder Behinderungen. Dies wird durch die unwiderlegbare Tatsache untermauert, dass arme und Migrantenkinder in der Hauptschule überrepräsentiert und am Gymnasium unterrepräsentiert sind. […]

Der Sonderberichterstatter stellte fest, dass die Einbeziehung von behinderten Menschen in die Regelschulen nicht die Norm ist. Folglich kann die vom Staat propagierte Integrationspolitik als Politik der Absonderung ausgelegt werden, die letztlich dazu führt, dass die meisten behinderten Kinder eine Sonderschule besuchen. In Berlin beispielsweise besuchen 45 Prozent der behinderten Schüler die staatliche Regelschule, während es in Bayern zwischen 50.000 und 60.000 behinderte Kinder gibt, von denen nur etwa 17.000 auf eine Regelschule gehen. […]

Nach den dem Sonderberichterstatter vorliegenden Informationen trifft die Tatsache zu, dass Kinder mit einem Flüchtlingshintergrund nicht vom Pflichtschulsystem erfasst werden. Selbst nach Umsetzung einer positiven Reform in diesem Bereich durch mehrere Länder gibt es immer noch drei Länder (Baden-Württemberg, Hessen und Saarland), die Kinder mit einem unsicheren rechtlichen Status hiervon ausschließen. […]

Dem Sonderberichterstatter liegen auch Informationen vor, nach denen ungefähr 20 Prozent der Hauptschüler keinen Schulabschluss erlangen und circa die Hälfte der Schüler mit Migrationshintergrund keine Arbeitsplatz finden, nachdem sie die Schule abgeschlossen haben. […]

Trotz der offenkundigen Besonderheiten der deutschen Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund geht der Sonderberichterstatter davon aus, dass es sich nicht um ein ethnisches, sondern um ein soziales Problem handelt, da diese Bevölkerungsgruppen mehrheitlich den eher benachteiligten Schichten angehören. […]

Die Bemühungen zur Verbesserung der Bildungsqualität können nicht zum Erfolg führen, wenn sie nicht zuerst gerechte und gleiche Voraussetzungen für den Lernprozess gewährleisten, die verbunden sind mit der Möglichkeit des dauerhaften Zugangs, aber auch mit der Befriedigung grundlegender sozioedukativer Bedürfnisse. Solange Bildung nicht als ein Menschenrecht betrachtet wird, das jedem Kind garantiert werden muss, wird es schwierig sein, den spezifischen Bedürfnissen deutscher Schüler Rechnung zu tragen, deren Eltern oder Großeltern aus anderen Ländern nach Deutschland kamen. […]