Ein sinnloser Anfall von Nüchternheit

Der Abend will ganz offensichtlich die Sinne anspringen und gibt sich ganz daher atmosphärisch und assoziativ. Doch irgendwann fragt man sich, wozu all die Mühe? – Michael Thalheimer inszeniert Brechts „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ am Thalia Theater Hamburg

Aber die Verschärfungen bleiben harmlos und farblos wie die künstliche Sonne, die dreckig auf die Bühne scheint

Puntila, der Trinker, rührt den Löffel in seiner Kaffeetasse. Zur Ernüchterung. Nüchternheit befällt ihn in „sinnlosen Anfällen“, wie Puntila es formuliert. Denn nüchtern sein heißt, zurechnungsfähig zu sein, und dann ist dem Mensch alles zuzutrauen. Auch das Schlimmste. Zurechnungsfähig, in diesem Zustand schmeißt Puntila die weiße Kaffeetasse an die Wand und zertrittdie Scherben.

Und genauso behandelt er die Menschen um sich herum: Er verleidet der Tochter den Verlobten, den er selbst für sie ausgesucht hat. Er schlägt den Knecht, den er eben noch beschenkt hat. Wenn er den Frauen unter den Rock grapscht, muss wieder Hochprozentiges im Spiel sein. Denn betrunken liebt Puntila die Menschen ja. Darf aber weiter Arschloch und Seelenquäler sein.

In der Regie von Michael Thalheimer am Thalia Theater Hamburg könnte das Stück ruhig den gekürzten Titel „Puntila“ tragen: Er steht im Zentrum, er legt sich mit allen an, es geht nicht um den Klassenkampf, als den Bertolt Brecht seine lehrstückhafte Herr-und-Knecht-Geschichte geschrieben hat. Puntila ist sich selbst Feind genug. Und der Schauspieler Norman Hacker verbindet schon optisch die Gegensätze: Seine Füße stecken in Gummistiefeln, am Hemdkragen baumelt eine aufgebundene Fliege. Die Drehbühne: entweder edel-holzvertäfelt oder verschmiert wie ein Kuhstall. Auf einem Gut in Finnland spielt das Stück, in dem oft vom Weggehen die Rede ist. Doch alle bleiben am Hof. Stehen ganz vorne auf der Bühne und starren im Scheinwerferkegel in die Ferne wie in einen Sonnenuntergang. „Welcher Zerrissenheit ist der Einzelne in der Gesellschaft ausgesetzt?“, fragt sich Thalheimer im Programmheft. „Jeder Zerrissenheit“ suggeriert der Schauspieler Norman Hacker. Aus ihm brechen die unterschiedlichsten Gefühle langsam und von ganz tief unten heraus. „Spannend anzuschauen wie der Ausbruch einer Naturkatastrophe“, hieß es über ihn schon öfter. Dieses Mal gilt es mehr denn je. Dennoch fragt man sich irgendwann: wozu die ganze Mühe?

Die Sinne will der Abend ganz offensichtlich anspringen. Und gibt sich daher ganz atmosphärisch und assoziativ. Erst einmal wird es dunkel im Saal. Dunkler als dunkel. Selbst die Notlichter erlöschen. Laute Orchestermusik ertönt, irgendwas Deutsches wahrscheinlich, ganz so, als könnte das schon ein Statement sein.

Die Musik geht in ein gehetztes Atmen über. Und als es auf der Bühne heller wird, liegt in der Ecke ein Mensch wie ein Stück Vieh. Davor Puntila in seinen Gummistiefeln. Natürlich zieht Thalheimer, als abstrahierender Feinarbeiter, ihm nicht die SS-Stiefel über. In dem Moment scheint es möglich.

Dann allerdings löst sich die Spur totalitären Strebens schon wieder auf. Denn gespielt wird vornehmlich das Psychostück. Puntila schwärmt, fanatisiert, er leidet an allem. Befeuert von der Sturheit, mit der Matti (Andreas Döhler) jede Demütigung abprallen lässt. „Matti hat mich wenig begriffen. Zwingt mich, wider meine Natur zu handeln.“ Und an seiner Natur wird Puntila zugrunde gehen.

Thalheimer erfindet ihm am Ende den Tod, so wie er anderes gestrichen, verdichtet, reduziert hat. Aber die Verschärfungen bleiben harmlos und farblos wie die künstliche Sonne, die dreckig auf die Bühne scheint wie durch verschmierte Stallfenster.

Wenn Matti und Puntila auf den Hatelmaberg steigen, um die Schönheit des Guts und der Wälder, Puntilas Wälder, zu bewundern, dann geht er im doppelten Wortsinn „an seiner Natur“ zugrunde. Dem Toten werden die Augenlider geschlossen. Innerlich entfremdet war er der Welt schon vorher. Jetzt verschwindet er ins Nichts. Im Grunde ein armes Schwein. SIMONE KAEMPF