Preußens Klang und BVGs Gloria

Seit 20 Jahren betreibt die BVG ihre Vergabestelle für Musiklizenzen. Wer in den U-Bahnhöfen geigen will, muss früh aufstehen. Schließlich sind Musiker Frühaufsteher, meint ein BVG-Sprecher. Die U-Bahn-Musikanten sehen das anders. Doch sie kommen trotzdem. Ohne Lizenz werden sie vertrieben

VON POUYEH ANSARI

In kleinen Grüppchen stehen ein Dutzend Männer im U-Bahnhof Rathaus Steglitz. Sie unterhalten sich flüsternd in einer slawischen Sprache, so als ob sie niemanden wecken wollen. Im Grunde sind sie selber noch nicht ganz wach. Die Augen klein und die Gesichter ausdruckslos mit den Händen tief in den Taschen vergraben, stehen sie in der Vorhalle des U-Bahnhofs. Sie warten darauf, aufgerufen zu werden. Sie wollen Musik machen. Im Berliner Untergrund.

Durch die morgendlichen Stille ertönt die Stimme einer BVG-Mitarbeiterin: „Nummer drei, bitte!“ Der kleine ältere Mann mit der aufgerufenen Nummer war heute schon um 6 Uhr zur Stelle. Bei der Vergabe der Genehmigungen zum Musizieren in den U-Bahnhöfen wollte er einer der ersten sein. Also hat er sich eine Nummer gezogen und seinen Wunschbahnhof und den Wunschtermin genannt. So viel Freiheit muss sein. Die meisten aber kommen, um noch am gleichen Tag ihren Obulus zu verdienen.

Jeden Mittwoch von 7 bis 11 Uhr und donnerstags von 8 bis 13.30 Uhr vergibt die BVG 40 Musizier-Genehmigungen für die darauf folgende Woche, zu Weihnachten können es auch mal mehr sein. Diese Regelung gibt es seit der 750-Jahr-Feier der Berliner Verkehrsbetriebe vor 20 Jahren. Somit ist die legale U-Bahn-Musik ein Stück Brauchtum im Berliner Untergrund.

Traditionelles Brauchtum bringt auch der 30-jährige Ukrainer Slavik auf seinem Akkordeon mit. Seit zwei Jahren kommt er regelmäßig nach Berlin, um hier etwas Geld für den Unterhalt in der Heimat dazuzuverdienen. „Ich bin heute Morgen um 5 Uhr aufgestanden“, sagt er mit den Händen in der Hosentasche. „Die Öffnungszeiten sind viel zu früh! Früher ging es später los, da waren mehr Musiker hier. Jetzt kommen immer nur zehn bis zwölf Personen.“ Slavik schüttelt den Kopf: „Das ist nicht normal!“ Mittwochs nach der Ausgabe der Genehmigungen geht er mit seinen Kollegen einen Kaffee trinken, denn um diese Uhrzeit lohnt es sich noch nicht zu spielen.

„Musiker sind Frühaufsteher“, ist dagegen Klaus Wazlak, einer der Pressesprecher der BVG, überzeugt. „Die Musiker stehen früh auf und gehen nach der Vergabe der Genehmigungen an die Arbeit.“

Kein Zweifel: Es gibt auch beim Musizieren in der U-Bahn genaue Regeln, die eingehalten werden müssen: Mehr als drei Interpreten dürfen nicht zusammen spielen, keine Blasinstrumente, keine Verstärker, Musizieren in der Nähe von Verkaufsstellen ist untersagt, in den Bahnen sowieso. Die Genehmigung pro Tag kostet 6,40 Euro, darin sind die Hin- und Rückfahrt zum „Arbeitsort“ enthalten, ein Service der BVG.

Ken, ein Abiturient mit deutsch-japanischen Wurzeln, bessert sich seit einem halben Jahr sein Taschengeld auf. Auf seiner Akustikgitarre gibt er Klassiker wie „Yesterday“ und „Under the Bridge“ zum Besten.

Kens Arbeitstag beginnt um 12.30 Uhr. Meistens hält er es bis 19 Uhr durch. Zwischendurch gönnt er sich eine Stunde Pause. „Früh morgens lohnt es sich nicht, denn da sind die Passanten gestresst und müssen schnell zur Arbeit“, erklärt Ken. „An guten Tagen verdiene ich etwa 10 Euro pro Stunde, im Schnitt sind es um die 8 Euro. Wenn es mal nicht so gut läuft, breche ich auch früher ab und gehe nach Hause.“

Der 18-Jährige sieht das ganz gelassen. Gitarrespielen ist sein großes Hobby, Straßenmusik hat ihm schon immer gefallen. Eines Tages stellte er sich an eine U-Bahn-Station in Berlin und spielte. Nach einer halben Stunde machte er die erste Bekanntschaft mit dem BVG-Aufsichtspersonal, das ihn nach seiner Genehmigung fragte. Da erfuhr er überhaupt erst von der Regelung der BVG.

Kens Musikerfreund Tom ist heute zum ersten Mal bei der Vergabestelle. „Ich finde es gut, dass es diese Regelung gibt“, sagt er. „Denn so hat alles seine Ordnung, und man muss sich nicht mit anderen Musikern um Plätze streiten. Allerdings könnte man das Ganze auch um zwei Stunden nach hinten verschieben.“ Tom gähnt.

Die BVG sieht das anders. Sie hat die Uhrzeiten ebenso festgelegt wie die 50 Spielorte. Die beliebtesten Bahnhöfe sind Amrumer Straße, Eisenacher Straße, Hallesches Tor und Stadtmitte. Zum einen wegen der Akustik in den langen Tunnels, zum anderen sind es typische Umsteige-Bahnhöfe. Der Alexanderplatz, der Potsdamer Platz und die Friedrichstraße werden nicht mehr angeboten. „Am Alexanderplatz und am Potsdamer Platz wird gebaut, an der Friedrichstraße hat sich ein unfreundlicher Wurstverkäufer über die Musik beschwert“, bedauert die Mitarbeiterin am Schalter.

Auch Robert hat sich frühmorgens von Potsdam auf den Weg zur Vergabestelle gemacht. Er ist 40 Jahre alt und gelernter Tischler, aber sein Hauptinteresse gilt der Musik. Bisher hat er sich aus Prinzip keine Genehmigung geholt. Denn in der Hausordnung der BVG stehe, dass im Namen des Fahrgastes keine Musik gespielt werden darf. „Aber hat die BVG jemals einen Fahrgast gefragt, ob ihn die Musik stört?“

Irgendwann aber war er es leid, mit seinem Kontrabass alle halbe Stunde vom Aufsichtspersonal vertrieben zu werden. Vielleicht wird nun auch er regelmäßig mittwochs um 7 Uhr für eine Genehmigung anstehen. Ein Frühaufsteher ist auch er nicht.