DIE ÄSTHETISCHE REAKTION MARSCHIERT: DAS „PALAIS BELLE KOLLE“ IN BERLIN-PRENZLAUER BERG

Viele große Baulücken sind in den Berliner Innenstadtbezirken ja nicht mehr übrig – doch wer deshalb geglaubt hat, das Schlimmste sei nun vorbei, sieht sich spätestens nach einem Spaziergang durch die Kollwitzstraße im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg getäuscht. Auf Höhe der Belforter Straße, an einer nicht unbedingt prominenten, aber sehr sichtbaren Ecke auf halbem Weg zwischen Kollwitz- und Senefelder Platz, beginnen die Arbeiten am „Palais Belle Kolle“, einem großen Ensemble von vier Häusern und einer Gartenvilla im Innenhof. Die Berliner Architekturdebatte mag längst weiter sein: doch angesichts des „Palais Belle-Kolle“ muss noch einmal über Fassaden gesprochen werden. Inmitten eines Gründerzeitviertels, das seine Geschichte als düstere Arbeiterkaserne durch groß angelegte Abrisse seiner Hinterhöfe entsorgt hat, variiert das „Palais Belle Kolle“ die Tradition des Berliner Historismus, indem es Elemente des Pariser Stadtbaus aufnimmt: französische Balkons, Konsolen und Dekomalereien – ein Vorgehen, dessen Kitsch sich im angemessen bescheuerten Namen des ganzen spiegelt: das „Palais Belle Kolle“ kombiniert die verlogene Berliner Miljöh-Romantik mit dem Versprechen französischer Lebensart. In ihrer Formensprache, die alle Errungenschaften der vergangenen hundert Jahre ignoriert, sind diese Häuser systematisch abgedichtet gegen die komplizierten Bruchlinien und Lücken der Gegenwart. Und in ihrem Bedürfnis nach historischer Gefälligkeit zeichnen sie die zentrale Wunschbilder der ästhetischen Reaktion nach. Diese teilt sich ja gegenwärtig in zwei Lager, die nicht viel mehr verbindet als ihr überwältigendes Bedürfnis nach „Bürgerlichkeit“. Da gibt es Verfechter einer verkürzten Kritik der Moderne, für die das schön ist, was als idyllischer Rückzugsraum aus der Gegenwart funktioniert. Diese Leute sammeln sich bevorzugt in Denkmalschutz-Iniativen und hätten am liebsten ein Deutschland in den Mauern von 1907. Ihnen gegenüber stehen die Neokonservativen, die in ihrem verzweifelten Abwehrkampf gegen alles, was sie mit „1968“ verbinden, Deutschland endlich von seinen Verbrechen reinwaschen wollen. Auch sie hätten gerne ein Deutschland in den Mauern von 1907, nicht unbedingt weil es schöner ist, sondern um sich von hier aus in ein 20. Jahrhundert hineinzufantasieren, das anders hätte verlaufen können. Normalerweise mögen sich diese beiden Lager nicht, außer ihrer Abneigung gegen ästhetische Zeitgenossenschaft teilen sie wenig. Im „Palais Belle Kolle“ allerdings können sie nun Tür an Tür wohnen. Denn hier finden sie aus unterschiedlichen Gründen genau das Deutschland, das den Kern ihrer ästhetischen Vorstellungen ausmacht: in einem mit ein bisschen Savoir-vivre aufgehübschten Neowilhelmismus. TOBIAS RAPP FOTO: ROLF ZÖLLNER