Jeden Tag Blumenkohl

Protestantischer Narzissmus als Widerstand gegen eine falsche Welt. „Die Höhle vor der Stadt in einem Land mit Nazis und Bäumen“ wurde im Deutschen Nationaltheater in Weimar uraufgeführt

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Der kürzeste Weg ins Theater führt diesmal durch das Einkaufszentrum. Das heißt in Weimar „Atrium“, ist mit den Pappkulissen eines italienischen Dorfes dekoriert und nimmt den Platz der „großen Halle“ ein, die hier bis zum erst vor kurzem vollendeten und nicht unumstrittenen Bau der Shopping-Mall den Mittelpunkt des ehemaligen Gauforums in Weimar markierte. Dahinter liegt das E-Werk, vom Deutschen Nationaltheater in Weimar als experimentelle Nebenspielstätte genutzt. Und da wird die Geschichte von Holm, einem jungen Architekten, erzählt, der ein Einkaufszentrum bauen könnte, aber lieber Konsumverweigerer sein möchte und den Herrschaftsgesten der Architektur misstraut. Zusammen mit seiner Freundin Johanna ist er in einen heruntergekommenen Plattenbau gezogen, um dort die Entschleunigung des Lebens und den Verzicht zu üben. Johanna aber, Historikerin auf den Spuren der Nationalsozialisten, wird bald von Fantasien verfolgt. In jedem Betrunkenen auf den weiten Betonflächen zwischen den Plattenbauten, in jedem Blick, der aus einem Fenster auf sie fällt, glaubt sie einen Feind zu sehen und eine Verschwörung zu spüren.

„Die Höhle vor der Stadt in einem Land mit Nazis und Bäumen“ hat Tine Rahel Völcker ihr diskursintensives Stück genannt, das Weimar, der Stadt der Uraufführung, auf den historischen Leib geschrieben zu sein scheint. Die Uraufführung, eine Koproduktion zwischen dem DNT Weimar und dem Maxim Gorki Theater Berlin, hat Tilmann Köhler inszeniert, der demnächst auch zum Theatertreffen nach Berlin eingeladen worden ist. Doch nicht nur zum Ambiente einer ihre Vergangenheit schwer verdauenden Stadt passt das Stück über die Suche nach dem richtigen Leben. Autorin und Regisseur sind beide 1979 geboren, und auch keine der Figuren oder der Schauspieler scheint älter als achtundzwanzig.

„Dreißig sei ein schwieriges Alter“, gibt Holm in dem Stück öfters zu bedenken, „entweder man bringt sich um oder man heiratet. Rein in die Gesellschaft oder raus.“ „Hitler war dreißig, als er beschloss in die Politik zu gehen“, sinniert seine Freundin Johanna. Es gibt Fehler, die zu vermeiden beiden ganz eindeutig scheint. Theoretisch zumindest. Praktisch sieht die Sache etwas komplizierter aus. „Man macht sich viel zu viel Gedanken ums Essen“, meint Johanna, die zehn Köpfe Blumenkohl gekauft hat, „man muss die Quellen der Ablenkung aufs Äußerste reduzieren. Dann ist man frei im Kopf.“ Holm wird etwas bange ob der vielen Blumenkohlköpfe. Man teilt seine Bedenken und ist gerührt, wie er sich Johanna zuliebe dennoch auf den Kohl einlässt.

Die Blumenkohlköpfe sind fast die einzigen Requisiten der Aufführung. Vier kleine Zellen, von beiden Seiten einsehbar, reichen für das Bühnenbild. Zu den Besuchern des Paares gehört Fritz, eigentlich Journalist, und von so großer Empathie für die Irren und Ausgeschlossenen ergriffen, dass er sich selbst in so eine Rolle hineinsteigert. Und Chantal aus der Schweiz, von der „Authentizität“ des Ortes angefixt, die das ganze Experiment mehr als Party-Location begreift. Jeder ihrer Figuren hat die Autorin sehr genau konturierte Strategien, sich mit den Fragen des Sinns und der Teilhabe an der Gesellschaft auseinanderzusetzen, mitgegeben; allein, gerade weil sie den Weg von Karriere, Egoismus und Konsum nicht gehen wollen, verheddern sie sich in einem Gestrüpp selbstbezüglicher Reflexionen. Und je wütender sie die Partizipation am Falschen verweigern, desto mehr wächst der Verdacht, dass sie sich die Bösen draußen vor der Wohnungstür selbst erfinden, als Rechtfertigung ihrer Existenz im Widerstand. Da ist es nur konsequent, dass sie auf der Bühne mit übergezogenen Masken – aus Einkaufsbeuteln – auch ihre eigenen Feinde spielen.

Überhaupt – das Spiel. Ach, ließe sich doch das Leben wie die Architektur erst einmal am Modell überprüfen. So hat die Inszenierung von Tilmann Köhler viel Selbstreflexion zu stemmen und wenig Geschichte zu erzählen – und so betrachtet gleicht sie in der Struktur vielen Tschechow-Spielen der letzten Jahre. Die Anstrengung, mit der sich die Protagonisten in ihre Projekte stürzen, überträgt sich in dem über zweistündigen Spiel auf der offenen Bühne. Es gibt keinen Rückzugsort beziehungsweise – jedes Versteck ist von überall einsehbar. Hell ausgeleuchtete Gedanken. Die Energie wird dabei lange hochgehalten und nur wenige Ausbrüche aus der Anspannung werden zugelassen. Die fünf Darsteller dieser Versuchsstation im Menschenpark sind dabei die ganze Zeit zusammen, unterstützt noch von einer Sängerin, die ab und zu mit unheimlichen Echo-Effekten den Zug ins Surreale verstärkt. Doch mehr Ablenkung ist nicht – keine Musik, kein Video, nur Text und Blumenkohl.