Helden in peinlichen Situationen

„Minibar“: Kolja Mensing schreibt dreißig Variationen eines aktuellen Adoleszenzromans und findet damit eine angemessene Form fürs Niemandsland im Alter zwischen dreißig und vierzig. So wie früher unter dem Pflaster der Strand lag, liegt hinter der Strenge und Lakonie nun die Traurigkeit

VON JOCHEN SCHIMMANG

Im handlichen Westentaschenformat, dem Titel durchaus angemessen, präsentieren sich Kolja Mensings kurze Erzählungen, reisegerecht gewissermaßen: eines dieser Bücher, das man gleich nach der Ankunft im Hotelzimmer auf dem Bett liegend aufschlagen und einhändig lesen kann, nachdem man sich an der Minibar bedient hat.

Die Gattungsbezeichnung Erzählung ist irreführend, wenn auch formal korrekt: Keiner der Texte hat mehr als vier Seiten. Sie heißen „Papier“ oder „Himmel“, „Aspirin“ oder „Krieg“. Alle folgen einer ähnlichen Verlaufskurve.

Sie beginnen etwa so: „Er kam gegen neun, mit einem Sechserpack Bier in der Hand.“ Oder: „Damals im Herbst flogen seine Schwester und ich für zwei Wochen nach Griechenland.“ Oder: „Wir waren eigentlich nicht einmal gute Bekannte.“

Und sie enden so: „ ‚Ich weiß wirklich nicht, warum sie uns an diesem Abend eingeladen haben‘, sagte K.“ Oder: „ ‚Wir sollten uns auf jeden Fall wieder einmal treffen‘, sagte er.“ Oder: „Schließlich vergaßen wir das Ganze.“ Läse man das Ganze als eine reine Abfolge von Erzählungen, würde man es vielleicht auch bald vergessen. Aber was Mensing vorstellt, sind in Wahrheit kleine Romane, dreißig Romane in Pillenform, um den Untertitel einer bekannten Textsammlung von Giorgio Manganelli zu paraphrasieren. Am ergiebigsten aber ist es, wenn man diese dreißig Kürzestromane als dreißig Variationen eines Romans liest. Wir müssen jetzt nur noch herausfinden, wovon er handelt.

Vor knapp fünf Jahren hat Kolja Mensing, der einige Jahre als Kulturredakteur für die taz gearbeitet hat, ein Buch über das Aufwachsen in der Provinz geschrieben und über die Schwierigkeiten, der Provinz zu entkommen. „Doch die Protagonisten seiner kurzen und streng durchkomponierten Erzählungen leben in der Großstadt“, versichert uns der Klappentext zu Kolja Mensings neuem Buch: vermutlich, damit wir nicht eine Fortsetzung seines Erstlings erwarten.

Das hätten wir aber ohnehin nicht getan. Die Aussage stimmt dennoch nicht: Mensings Helden bewegen sich vor allem in geschlossenen und überdachten Räumen. Sie sind ein paarmal bei Freunden oder neuen Bekannten zum Essen eingeladen, was meistens zu peinlichen Situationen führt. Nicht selten fahren sie nach Hause und besuchen ihre Eltern, von denen sie sich abgenabelt glauben, was aber bei näherem Hinsehen meistens nicht der Fall ist. Einige Male pflegen sie Kindheitserinnerungen, begegnen alten Schulfreunden oder erzählen, wie Freundschaften langsam auseinandergehen.

Selbstverständlich fangen sie auch Liebesbeziehungen an, die meistens irgendwann unspektakulär enden, weil sie mehrheitlich affektiv stark gehemmt sind. Sie arbeiten in Büros, in Redaktionen, einer liest den Stand von Wärmezählern ab, ein paar sind arbeitslos. Sie bewegen sich in einer Art Niemandsland: Wenn Städtenamen genannt werden, sind diese Städte meistens nur gerade im Fernsehen zu sehen. Sie bewegen sich gewandt in einer Art mittlerem Elend, mit dem sie mehrheitlich ganz gut zurechtkommen. Allerdings kommen sie auch nicht recht von der Stelle.

Und damit wird deutlich, wovon diese dreißig kurzen Erzählungen handeln, worüber dieser Roman eigentlich spricht. Seit etlichen Jahren kennen wir den Begriff der verlängerten Adoleszenz und wir kennen auch die Gründe dafür: Veränderung familiärer Strukturen, Veränderungen bei den Ausbildungswegen und auf dem Arbeitsmarkt. Das ist die Hintergrundfolie, vor der Mensing seine Geschichten erzählt, die am Ende eben diesen Roman der verlängerten – tendenziell unendlichen – Adoleszenz ergeben. Das erklärt auch, warum Besuche bei den Eltern (meist sprachlos) oder Gedanken über den möglichen Tod des Vaters (meist harmlos) eine solche Rolle spielen.

Als Adoleszenzroman steht Mensings Buch natürlich nicht allein da. Peter Stamms Bücher etwa verdanken ihren Erfolg unter anderem der Tatsache, dass sie von Dreißig- bis Vierzigjährigen erzählen, die irgendwie ganz gut zurechtkommen und dann doch wieder nicht, und Katharina Hacker hat für eine Arbeit dieser Art, den Roman „Die Habenichtse“, im vergangenen Herbst sogar den Deutschen Buchpreis erhalten. Das war allerdings ein Roman von gut dreihundert Seiten Umfang, dessen Protagonisten Namen haben, in London Karriere machen und über Sachen wie den 11. September nachdenken.

Mensing findet für das Leben im adoleszenten Niemandsland eine andere, vermutlich angemessenere Form, die jeden Gedanken an so etwas wie Schicksal oder dramatische Wendung von vornherein ausschließt. Die serielle Abfolge von Romanen in Pillenform (es hätten auch noch dreißig dazukommen können) entspricht den Verhältnissen, von denen sie erzählt. „Streng durchkomponiert“ ist das, ja. Aber wie früher unterm Pflaster der Strand lag, liegt hinter dieser Strenge und Lakonie die Trauer.

Nein, das vielleicht nicht, aber wenigstens die Traurigkeit. „Wir verabredeten uns zum Essen, und es ergab sich, dass ich auf das Haus, den Urlaub in Griechenland und die Affäre mit der älteren Schwester meines besten Freundes zu sprechen kam. Es war ein guter Anfang. Wir trafen uns häufiger und gingen miteinander ins Bett. Wieder wurden ein paar traurige Geschichten erzählt. Ich schnitt besser ab als beim letzten Mal.“

Kolja Mensing: „Minibar“. Verbrecher Verlag, Berlin 2007, 127 Seiten, 13 Euro