Militärisch nutzlos

A. C. Grayling hat eine kluge Analyse des britischen Bombenkrieges gegen Nazideutschland geschrieben, die übers Zeitgeschichtliche hinausweist

VON STEFAN REINECKE

Selbst wenn die Flächenbombardierungen der Royal Air Force (RAF) 1943–45 ein Kriegsverbrechen gewesen sein sollten, so reichen sie keineswegs an die Ungeheuerlichkeit des Holocaust heran. Zudem war der Krieg der Deutschen ein illegitimer Angriffskrieg, jener der Alliierten der nötige Versuch, die Welt vor Schlimmerem zu schützen.

Diese Bemerkung schickt der Philosoph A. C. Grayling seiner kritischen Analyse der Flächenbombardements der RAF voraus. Sie mag banal klingen, ist es aber nicht. Graylings Buch wird in einschlägigen Blogs bereits als Beweis für den „Bombenholocaust“ gefeiert. Offenbar wirkt es auch 60 Jahre danach noch entlastend, eine deutsche Opfererzählung zu schaffen, die das monströse NS-Unrecht in milderem Lichte erscheinen lässt.

Spiegelverkehrt gibt es auch in England Chauvinisten, die Kritik an Arthur Harris, dem Oberkommandierenden des RAF Bomber Command, für Verrat halten. So untersucht Grayling ein noch immer hart umkämpftes geschichtspolitisches Gelände. Er tut dies mit Augenmaß und ohne Polemik. Sein Buch ist eine Art Prozess, mit Pro und Kontra – und eindeutigem Urteil.

Der britische Bombenkrieg war, anders als die eher gezielten US-Angriffe auf kriegswichtige Logistik, militärisch nahezu nutzlos. Die Ergebnisse der Flächenoffensive waren, so erkannte Bomber Command 1944 selbst, „zutiefst enttäuschend“. Die deutsche Rüstungsproduktion wurde weder durch die Zerstörungen von Hamburg, Berlin oder gar Dresdens wirksam eingeschränkt. Doch dies war seit 1942 auch nicht mehr der Zweck der Bombardierung. Das Ziel war es, mit Flächenbombardements deutsche Zivilisten zu zermürben und gegen die NS-Führung aufzubringen. Der Effekt war genau das Gegenteil: ein trotziges Jetzt-erst-recht. Genau diesen Effekt hatte auch das deutsche Bombardement von Coventry gehabt. Die Briten hätten es also besser wissen können, ja müssen. Dies zeigt Grayling anhand der präzisen Kritik der britischen Autorin Vera Brittain, die alle triftigen Vorwürfe gegen die Bomberpraxis der RAF schon 1943 erfolglos erhob. Warum also wandten die Briten 1944/45 halsstarrig eine ebenso barbarische wie untaugliche Methode an?

Die Entfesselung des Bombenkrieges war, wie so oft, weniger Vorsatz als Ergebnis der Eskalationslogik des Krieges. Am Anfang standen die deutschen Angriffe auf Rotterdam, Warschau und London, am Ende der Feuersturm von Dresden. Hinzu kam der Selbstlauf des militärischen Apparates. 1941 waren noch mehr RAF-Piloten bei Bomberangriffen ums Leben gekommen als deutsche Zivilisten. 1944 hatten die Briten die Lufthoheit errungen. Sie hatten viel Energie in den Aufbau der Bomberflotte gesteckt – und schreckliche Verluste hinnehmen müssen. 55.000 RAF-Soldaten wurden abgeschossen und getötet. (Es gab insgesamt sieben- bis achtmal so viele zivile deutsche Bombenopfer – dieses Verhältnis zeigt, wie absurd KZ-Vergleiche sind). Die furchtbarste Zerstörung fand in den letzten Monaten des Krieges statt – und zwar einzig und allein, weil es die Bomberflotte gab und das deutsche Gegenfeuer schwand. Selbst Churchill konnte sich Ende März 1945 nicht mit dem praktischen Argument durchsetzen, dass es unklug sei, jene Städte zu vernichten, in denen man selbst in ein paar Wochen als Besatzer wohnen würde.

Zudem dachten die Militärs aller Seiten stark in den Kategorien des Ersten Weltkrieges, der als Abnutzungskrieg von revoltierenden Massen in Russland und Deutschland entscheidend beeinflusst worden war. Das ließ gerade barbarische Angriffe auf deutsche Städte in den Augen von Bomber Command plausibel erscheinen. Ein Beispiel, wie die Fixierung auf Geschichte blind machen kann.

Die Verteidiger des Bombenkrieges argumentieren, dass die Bomben deutsche Panzerabwehrkanonen und Jagdflugzeuge banden, die sonst an der Ostfront eingesetzt worden wären. Das ist richtig – aber dieser Effekt, so Graylings Gegenargument, wäre auch erzielt worden, wenn die RAF militärische Ziele angegriffen hätte, anstatt mittelalterliche Städte zu vernichten.

Der Bombenkrieg, so Graylings Resümee, war ein „moralisches Verbrechen“ (Grayling). Dieser Terminus klingt etwas ungelenk, ist aber präzise. Denn die Flächenbombardierungen waren formal keine Kriegsverbrechen, weil es vor 1945 keine völkerrechtlich verbindlichen Normen über den Luftkrieg gab. Allerdings waren die gezielten Vernichtungen von Zivilisten und Städten Verbrechen, die „gegen alle moralischen und humanitären Grundsätze der gerechten Kriegführung“ verstießen. Der Bombenkrieg war das Falsche im richtigen Krieg. Diese Erkenntnis ist ein Beitrag zur historischen Selbstaufklärung der Briten.

Das Völkerrecht hat, was den Luftkrieg betrifft, Fortschritte gemacht. Allerdings sind Flächenbombardierungen keineswegs tabu. Laut Doktrin der U.S. Air Force von 1997 ist die „Moral der Zivilbevölkerung ein legitimes Angriffsziel“. Den Schrecken, der sich in diesen Worten verbirgt, versteht man nach Lektüre dieses Buches besser.

A. C. Grayling: „Waren die alliierten Bombenangriffe Kriegsverbrechen?“ C. Bertelsmann, München 2007, 416 Seiten, 22,95 Euro