Zu wenig zum Leben

In Celle leben derzeit 169 Menschen von Arbeitslosengeld II – freiwillig und für sieben Wochen. In einer Aktion der Diakonie testen sie, wie es sich anfühlt, jeden Cent zweimal umdrehen zu müssen

In den sieben Hartz-IV-Probewochen kann Iris Weinreich für sich und ihre Tochter Lisa 552 Euro pro Monat ausgeben. Für Lisa sind das jeden Tag 2,62 Euro für Lebensmittel – Frühstück, Mittag und Abendessen. „Wir essen nicht gesund, sondern billig“, sagt am Abend einer der ALG-II-Empfänger. Für Gesundheitspflege, also zum Beispiel Zahnpasta oder Shampoo, stehen für Lisa jeden Tag 28 Cent zur Verfügung. Im Selbstversuch haben die Teilnehmer noch gefüllte Kleiderschränke und funktionierende Haushaltsgeräte. „Aber länger als ein Dreivierteljahr würde das Hartz-IV-Leben nicht gehen“, sagt Iris Weinreich. „Ich wüsste nicht, wovon ich für Lisa eine Winterjacke kaufen sollte.“ Für Lisas Bekleidung und Schuhe kann ihre Mutter jeden Tag 69 Cent ausgeben, im Monat sind das 20,70 Euro.  KC

VON KARIN CHRISTMANN

Lisa-Marie Weinreichs Oma wird 80. Doch für ein Geschenk haben Lisa und ihre Mutter Iris kein Geld, denn sie leben von Arbeitslosengeld II. Am Ende entscheiden sie sich für einen kleinen Korb mit Lebensmitteln, den sie selbst zusammenstellen.

Zum 81. im nächsten Jahr kann die Oma aber wieder ein üppigeres Geschenk erwarten, denn Iris und Lisa Weinreich sind eine Hartz-IV-Familie auf Zeit. „Sieben Wochen leben mit Hartz IV“ heißt das Angebot der Diakonie der evangelischen Landeskirche Hannover: Freiwillige erfahren im Selbstversuch, ob und wie es sich mit Arbeitslosengeld (ALG) II leben lässt.

Zwei der ALG-II-Testerinnen sind die Weinreichs. Gemeinsam können sie 552 Euro monatlich ausgeben und müssen davon alles außer Wohnungs- und Heizkosten bezahlen. Als Weinreich diese Zahl hörte, dachte sie spontan: „Das ist ja gar nicht so heftig.“ Heute, nach fast fünf Wochen, sieht sie es anders: „Man kann von ALG II nicht leben, aber man muss auch nicht verhungern.“

Iris Weinreich betreibt ein Versicherungsbüro und hat deshalb regelmäßig mit Kunden zu tun, die von Hartz IV betroffen sind. Natürlich kannte sie außerdem die finanzielle Größenordnung, um die es geht, zum Beispiel den Regelsatz für Alleinstehende ohne Kinder. Er ist, beinahe genauso wie Hartz IV, zu einem Kampfbegriff geworden: „345 Euro“. Trotzdem ist Weinreich von den Ergebnissen des Selbstversuchs überrascht.

In der ersten Woche kaufte Iris Weinreich einfach nur anders ein: mehr Discounter, mehr billige Produkte. Danach stellte sie fest, dass sie ihr Wochenbudget weit überzogen hatte und sparte noch mehr: Mineralwasser statt leckerer Brause, Fischstäbchen statt Sonntagsbraten. Damit bekam sie das Lebensmittelbudget in den Griff, doch es tauchten andere Probleme auf: Nicht nur die Oma, sondern noch ein weiterer Verwandter hatte Geburtstag. Außerdem begann die Gartensaison, und im Garten der Weinreichs wachsen in diesem Jahr nur eine Handvoll Stiefmütterchen. Eigentlich sollen laut Gesetz zudem 14 Prozent des monatlichen Geldes für langfristige Anschaffungen gespart werden – eine Waschmaschine oder ein Fahrrad zum Beispiel. „Das ist gar nicht machbar“, sagt Iris Weinreich. „Aber das Allerschlimmste an der Vorstellung, tatsächlich ALG-II-Empfängerin zu sein“, fügt sie hinzu, „ist, dass Lisa auf Dauer so leiden müsste.“

Mit Freunden mal ins Kino oder ins Schwimmbad gehen könnte Lisa nicht, und im Moment bekommt sie noch nicht einmal frisches Obst, denn das gibt das Budget nicht her. „Ein Kind ist viel teurer, als die ALG-II-Tabelle einem weismachen will“, sagt Iris Weinreich. Lisa wird bald zehn Jahre alt und wird kaum Geschenke bekommen. „Das ist aber o.k.“, sagt sie, denn sie findet die sieben Wochen genauso interessant wie ihre Mutter.

In Celle nehmen insgesamt 169 Menschen am Selbstversuch teil. Rund 15 von ihnen trafen sich am vergangenen Donnerstag mit echten ALG-II-Empfängern und tauschten Meinungen und Erfahrungen aus. Einer von denen, die tatsächlich auf das Geld vom Staat angewiesen sind, bestätigt Iris Weinreichs Eindrücke: „Meinen Kindern wird die Zukunft verbaut.“ Eine Mitgliedschaft im Sportverein kann er nicht bezahlen und einen Computer erst recht nicht. Wenn die Kinder aber später einen Ausbildungsplatz suchen und keine Computer-Kenntnisse haben, fragt niemand, ob sie aus einer ALG-II-Familie kommen.

Ernähren kann man sich vom ALG-II-Geld, darin sind sich alle einig. Soziale und kulturelle Teilhabe bleiben aber auf der Strecke. „Man grenzt sich zwangsläufig aus, wenn man es sich noch nicht einmal leisten kann, seine Freunde zum Kaffee einzuladen“, sagt Iris Weinreich. Gudrun Holstein, die am Abend bei den ALG-II-Testern zu Gast ist, erzählt das Gleiche. Es verletze ihren Stolz, sagt sie, sich im Café von Freunden aushalten zu lassen. Die einzige Lösung: Sie geht nicht mit. Als sie von dem Selbstversuch der Diakonie hörte, war Holstein zuerst empört. „Andere spielen, was ich leben muss“, dachte sie. Mittlerweile hat sie ihre Meinung geändert, denn sie kennt die Motivation der Teilnehmer: Die Probanden möchten real erfahren, worüber sonst nur abstrakt diskutiert wird.

Der Anlass ist die christliche Fastenzeit, die Ostern endet. Bis dahin gehe es nicht darum, sich sklavisch an das ALG-II-Budget zu halten, erklärt Horst-Peter Ludwigs. Der Sozialarbeiter leitet für das Diakonische Werk Celle den Selbstversuch. Die Teilnehmer haben Überschreitungslisten für Extras, die vom ALG-II-Geld nicht zu bezahlen sind. Der lang geplante Opernbesuch zum Beispiel, oder die Reparatur des undichten Dachs. „Die Überschreitungslisten sind dick und lang“, schätzt Ludwigs’ Kollegin Brigitte Siebe. Gerade dadurch, ergänzt Ludwigs, werde den Teilnehmern bewusst, von wie vielen Dingen ALG-II-Empfänger ausgeschlossen seien. Oder wie es Probandin Iris Weinreich formuliert: „Auf lange Sicht würde ich das nicht durchhalten. Dafür lebe ich viel zu gerne.“