In der Fremde

Die Welt, bevor sie versaut wurde: Der Kultroman „Bei den Bieresch“ von Klaus Hoffer wird wieder aufgelegt – hochkomische Hermeneutik

VON JOCHEN SCHIMMANG

Damals, in den frühen Achtzigerjahren, als die beiden Teile von „Bei den Bieresch“ sukzessive zum ersten Mal erschienen, war gleich klar, dass der Text die Fähigkeit zum Kultbuch hatte. Klar war allerdings auch, dass es der Kult einer relativ kleinen Gemeinde bleiben würde. Hoffers hingerissenste Leser waren Kollegen, Urs Widmer zum Beispiel, der schrieb, das sei „ein Buch, das später einmal aus dem Staub des Jahrhunderts herausragen wird“. Nun ist das letzte Jahrhundert noch nicht lange genug vorüber, um sagen zu können, was übrig bleiben wird, wenn sein Staub sich verzogen hat. Da warten wir noch ein bisschen. Für eine Wiederbesichtigung ist die Neuauflage des Buchs allerdings Anlass genug.

Diese Wiederbesichtigung kann viel Spaß machen, wenn man es richtig anfängt. „Bei den Bieresch“ erzählt von einem ländlich-archaischen Volksstamm „in einer der unwegsamen Provinzen im Osten des Reiches“, wie es gleich im ersten Satz heißt. Der Erzähler, Hans, geht einem alten Brauch folgend auf ein Jahr zu ihnen, um die Stelle seines verstorbenen Onkels einzunehmen, der hier Postbote war. Hans kommt aus der Stadt und hat naturgemäß Schwierigkeiten, zu verstehen, in was für eine Welt er da hineingeraten ist. Er ist also – ein klassisches Motiv – in die Fremde geraten, und die Bieresch, vertreten durch eine ganze Reihe mehrheitlich eher abstoßender Individuen (es gibt aber auch ein paar sympathische), versuchen, es ihm zu erklären, und Hans seinerseits versucht, sich auf diese Erzählungen einen Reim zu machen.

Wir befinden uns also im Bereich der Ethnologie. Wo der Ethnologe wirkt, ist aber auch die Fantasy nicht weit, und ich schlage vor, Hoffers Roman als Fantasy zu lesen. Das spricht nur für ihn, wenn man bedenkt, dass „der junge Leser“ heute Zugang zur Literatur oft über die Fantasy findet. Natürlich kann man auch von Intertextualität sprechen, die eigene Räume und eine eigene Welt schafft, und das stimmt auch. Kafka ist der gar nicht so geheime Übervater, der hinter diesem Text steht, De Selby, eine der weniger abstoßenden Figuren in diesem Buch, ist aus Flann O’Briens „Der dritte Polizist“ entnommen, Borges lässt auch grüßen. Aber was sind denn die Bücher von Kafka, O’Brien und Borges anderes als Fantasy?

Hoffer siedelt seine Welt nicht in einem reinen Fantasieraum an. Das Ländliche ist sehr plastisch, entsprechend wird ziemlich viel gesoffen in diesem Buch. Topografisch bewegen wir uns in einem Raum, der dem Burgenland und dem ungarischen Grenzgebiet ähnelt. Nicht wenige Ortsnamen sind real, wenn auch der Hauptort, das Dorf Zick, fiktiv ist. Auch die Sprache der Bieresch, die Ausdrücke aus verschiedenen Idiomen aufnimmt, hat Anklänge an burgenländische Mundarten und ans Ungarische.

Die Grundstimmung des Buchs, in ihrer Mixtur aus allgemeiner Depression, der Wucht der Tradition, den unübersichtlichen Verwandtschafts- und Machtverhältnissen, transportiert eines dieser verdrucksten Milieus, das wir aus vielen Erzählungen Kafkas und aus seinen Romanen kennen. Hans könnte auch Josef K. heißen. Mit Epigonentum hat das allerdings nichts zu tun, dazu ist Hoffer ein viel zu guter Autor. Mit Kafka verbindet ihn vor allem das Merkmal, dass seine Geschichte letztendlich hochkomisch ist.

Den Bieresch geht es wie uns allen vornehmlich darum, sich die Welt zu erklären. Wie wurde sie so verkorkst, wie sie heute ist? „Denn eines leuchtet dem Dümmsten ein: So kann es nicht immer gewesen sein“, heißt es an einer Stelle. „Das hält keine Menschheit aus.“ Es geht wie so oft in der Literatur um den Ursprungsmythos, darum, wie die Welt war, bevor sie versaut wurde: vor dem Sündenfall also. Wie überall gibt es auch hier die verschiedensten Auslegungen. Die Bieresch sind mit fast nichts anderem beschäftigt, als Texte und Erzählungen auszulegen. Sie drehen sich ewig im hermeneutischen Rad und wissen sehr wohl um die Vergeblichkeit ihrer Bemühungen. „Auf den ersten Blick erscheint mir zwar immer alles irgendwie einleuchtend und bedeutsam, aber im selben Augenblick kommt es mir schamlos und hinterhältig zugleich vor, alles ist wie ein Witz, der gutmütig anfängt, aber schlimm ausgehen wird.“

Auf die Einzelheiten muss hier nicht eingegangen werden. Es gibt bei diesen hermeneutischen Bemühungen zwei miteinander verfeindete Fraktionen. Es geht im Übrigen auch um die Macht der Frauen und schließlich um Besitzverhältnisse. Hoffers Buch öffnet sich durchaus einer möglichen marxistischen Lesart. Es öffnet sich überhaupt einer ganzen Reihe von Lesarten. Es ist unterhaltsam, witzig und aktuell. „Die Zukunft liegt zwar nicht hinter uns“, heißt es an einer Stelle, „aber sie liegt einfach nicht auf unserem Weg.“ Und es enthält fürs Zeitalter der Globalisierung eine Privatethik in nuce. „Ich habe es mir einmal zum Grundsatz gemacht“, sagt Jel Idézö, der Abdecker und Bestatter des Ortes, „mein Leben nicht persönlich zu nehmen, und trotzdem habe ich es mir nie durchgehen lassen, zynisch zu sein.“ Das hat mich endgültig überzeugt.

Klaus Hoffer: „Bei den Bieresch“. Literaturverlag Droschl, Graz 2007, 269 Seiten, 21 Euro