Trautes Heim, Unglück allein

In „Das Wahre Leben“ seziert von Alain Gsponer mit boshafter Gründlichkeit eine Familie

Die Hölle, das ist die Familie! Nein, so hat es Jean-Paul Sartre nicht gesagt. Für ihn waren in den vergleichsweise unschuldigen 50er Jahren noch „die Anderen“ die größte Pein, aber wissen denn irgendwelche Fremden oder Nachbarn, wie sie uns am tiefsten verletzen können? Da sind doch die eigenen Kinder und Lebensabschnittspartner viel kompetenter und grausamer, denn sie fühlen sich ja ihrerseits auch von uns gepiesackt und missachtet. Wie bitte? So schlimm ist es um die Familie im 21. Jahrhundert nun auch wieder nicht bestellt? Schauen Sie sich „Das Wahre Leben“ an und erschaudern Sie.

Bei der Familie Spatz lief alles im Gleichgewicht, so lange der Vater weg war. Zwölf Jahre lang hat er gearbeitet und als Risikomanager so viel Geld nach Hause gebracht, dass sich die Ehefrau und beiden Söhne in einer luxuriösen Vorstadtvilla langweilen konnten. Doch dann hat er wohl das eigene Risiko falsch eingeschätzt und den Job verloren. Wie in Loriots Komödie steht plötzlich „Pappa ante portas“ und wundert sich, dass er alles andere als willkommen ist. Seine Frau führt eine Galerie, der eine Sohn entdeckt beim Wehrdienst, dass er schwul ist, der andere jagt mit selbst gebastelten Sprengsätzen Vogelhäuser, Postkästen und eine griechische Statue in Nachbars Garten in die Luft. Sie haben sich miteinander arrangiert, doch plötzlich will der Vater Vater spielen und treibt die Familie auf eine Katastrophe zu. Alain Gsponer inszeniert diesen langsamen Zersetzungsprozess mit unerbittlicher Logik und sarkastischem Witz. Als Schweizer kennt er Dürrenmatts Satz, dass eine „gut erzählte Geschichte immer die schlimmstmögliche Wendung nehmen sollte“ und so stehen am Schluss des Films die Spatzens vor den rauchenden Trümmern ihres Hauses und in einer Intensivstation hört man auf den unregelmäßigen Rhythmus eines Herztons. Der Witz dabei ist, dass dieses Schreckensbild im Grunde ein Happy End ist, und mit dieser dramaturgischen Drehung löst der Film dann das ein, was Gsponger vorher sehr geschickt angelegt hat.

Denn die Familie Spatz wächst dem Zuschauer trotz oder gerade wegen ihrer Schwächen zunehmend ans Herz, und bald möchte man jeden von ihnen vor den anderen in Schutz nehmen. Statt einer voyeuristischen Faszination oder gar Schadenfreude entwickelt man Mitgefühl, und selbst wenn der Vater als toll gewordenes Familienoberhaupt eine Wand in der Villa einreißt, und daran kläglich scheitert („Warum sind da den Rohre drin?“), ist das lächerlich aber auch anrührend. Gspongers hat ein gutes Händchen bei der Auswahl der Schauspieler, und so überzeugt sein Film am meisten durch die Leistung des Ensembles. Josef Mattes und Volker Bruch finden in den Rollen der beiden Söhne genau den richtigen Ton zwischen jugendlichem Trotz und Verletzlichkeit und Ulrich Noethen ist in der Vaterrolle oft komisch, gerade weil er sich selbst so furchtbar ernst nimmt. Die Entdeckung des Films ist aber ausgerechnet Katja Riemann als sarkastische und immer zuerst strategisch denkende Mutter. Ihr hat Gspongers die besten Sätze geschrieben, und sie gibt diese mit einer grandiosen Bissigkeit von sich. Sie buhlt dabei nie um die Sympathie des Publikums, dazu ist diese Kratzbürste zu nah an ihrem tatsächlichen Image. Als Zugabe gibt es dann noch Hannah Herzsprung als die suizidale Nachbarstochter mit einer ähnlich überdrehten Tour de Force wie in „Vier Minuten“. Aber durch den Subplot um die ähnlich dysfunktionale Nachbarsfamilie wird der Film einen Tick zu burlesk. Die Familie Spatz schmort schon gut genug im eigenen Saft.

Wilfried Hippen