Kommentar: Das Wunder der Abwesenheit

Lange Jahre erregute der 1. Mai schon im Vorfeld die Gemüter. Nun geben sich alle Beteiligten gelassen.

Ach was wurde nicht um den 1. Mai gestritten. Mit Parolen, Plakaten und Kampfansagen in den Wochen vorher. Mit Transparenten, Lautsprechern, Steinen und Tränengas am Feiertag selbst. Und wiederum mit gegenseitigen Anschuldigungen in den Wochen danach. So ging es über zwei Jahrzehnte. Nun ist es Geschichte.

Heute nutzt nicht einmal mehr die CDU den ritualisierten Kampftag, um sich auf dem politischen Parkett des stets um die Sicherheit dieser Stadt besorgten Innenausschusses zu profilieren. Das all die Jahre in der ganzen Stadt klebende Plakat, auf dem in der kleinstmöglichen Schrift hunderte mehr oder weniger unwichtige Personen zur 13-Uhr-Revolution aufriefen, ist dieses Mal auch noch niemandem ins Auge gefallen. Und selbst der Zwist zwischen irgendwie immer noch linken Gruppen wie der örtlichen SPD oder den Grünen, die am Tag der Arbeit in Kreuzberg ganz kiezig friedlich feiern wollen, und irgendwie immer noch linkeren Gruppen, wie den internationalen Kommunisten oder der Antifa, die zur selben Zeit am selben Ort lieber demonstrieren wollen, fällt dieses Jahr ins Wasser.

All dies ist kein Thema mehr. Und nichts verdient mehr Aufmerksamkeit als dieses Wunder der Abwesenheit.

Zwar bereiten sich sowohl Demonstranten als auch die Polizei darauf vor, in gewohnter Stärke Präsenz zu zeigen. Doch sie geben sich wesentlich unaufgeregter als in den Vorjahren. Das lässt hoffen. Auf einen in Nuancen noch friedlicheren 1. Mai als in den Vorjahren. Vielleicht sogar auf einen völlig gewaltfreien Tag der Arbeit, der Platz ließe für eine echte Debatte. Selbst wenn die sich in erster Linie nur darum drehen würde, wer sich die erfolgreiche Entspannung zuschreiben lassen dürfte, wäre es schon ein Gewinn.

Vielleicht aber gelingt es sogar den Gewerkschaften mal wieder, am Tag der Arbeit die Aufmerksamkeit zu gewinnen. Die haben sich in den letzten Monaten immerhin am Comeback der Verteilungskämpfe versucht. Und Retro ist immer noch in Mode. Selbst in Kreuzberg.

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Leiter des Regie-Ressorts, das die zentrale Planung der taz-Themen für Online und Print koordiniert. Seit 1995 bei der taz als Autor, CvD und ab 2005 Leiter der Berlin-Redaktion. 2012 bis 2019 Leiter der taz.eins-Redaktion, die die ersten fünf Seiten der gedruckten taz produziert. Hat in Bochum, Berlin und Barcelona Wirtschaft, Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation und ein wenig Kunst studiert. Mehr unter gereonasmuth.de. Twitter: @gereonas Mastodon: @gereonas@social.anoxinon.de Foto: Anke Phoebe Peters

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