Lehmann-Geschädigte treffen sich zum Stammtisch: Die Finanzkrise im Hinterzimmer

Die durch die Lehman-Pleite Geschädigten treffen sich donnerstags zum Stammtisch in Wilmersdorf. Viele von ihnen haben tausende Euro verloren. Sie organisieren Mahnwachen und Demos.

Betroffene der Lehmann-Pleite protestieren vor einer Citibank-Filiale Bild: DPA

Das Hinterzimmer in der Kegelkneipe in Wilmersdorf ist gut gefüllt. Während im Keller die Kugeln über die Bahn rumpeln und im Vorraum 80er-Jahre-Musik aus den Boxen scheppert, schleppt der Wirt zusätzliche Sitzgelegenheiten heran. Im Vorraum machen es sich die Gäste auf Stühlen mit Kissen bequem. Die knapp 30 Versammelten im Hinterzimmer müssen sich mit blankem Holz zufriedengeben. Eine Analogie zur eigenen Situation - schließlich haben sie zusammen fast 1 Million Euro verloren. An die gleiche Bank. Eine Bank, die vor über einem halben Jahr pleiteging, die gerade liquidiert wird und die es eigentlich schon gar nicht mehr gibt: die Lehman Brothers.

Der Donnerstagsstammtisch der Berliner Lehman-Geschädigten wirkt familiär. Der Altersdurchschnitt liegt bei 60 Jahren. Man kennt sich hier: Auch die drei Neuen werden persönlich begrüßt. Stimmengewirr, bis eine Glocke die Anwesenden zur Ruhe ruft. Zunächst geht es um die Tagesordnung. Das Programm ist Routine: Neues aus der Presse, Neues aus der Politik, Protestbriefe, Aktionen, vor allem vor Bankfilialen, um auf sich aufmerksam zu machen.

Die Geschädigten sind gut vernetzt: Ein Forum und zwei E-Mail-Verteiler halten sie auf dem Laufenden. Sie treffen sich auf Demonstrationen, beim Stammtisch, bei Terminen mit Politikern. Auch wer hier 60, 70 Jahre alt ist, weiß mit Computer und Internet umzugehen. "Das hält jung", sagt eine Frau.

Doch der erste Eindruck einer eingeschworenen Gemeinschaft täuscht. Gleich zu Anfang wird der Ton zwischen zwei Männern rauer. Es geht um eine Vorlage zur Verlängerung der Klagefrist. "Ich will nur mein Geld wieder", brummt nach kurzem Wortgefecht einer der beiden in sich hinein. Es ist die Not des Verlusts, die hier zusammenschweißt, nicht die Lust an der Aktion.

An einem Ende des U-förmigen Tischs sitzt Helga Roeßner aus Hellersdorf, 69 Jahre alt. 5.000 Euro investierte sie in Lehman-Zertifikate. Wie die meisten hat sie einen dicken Ordner mit Unterlagen vor sich auf dem Tisch liegen. Aufmerksam lauscht sie der Debatte, immer wieder schreibt sie in ihren Block. Wenn sie erzählt, wie sie ihr Geld verloren hat, schüttelt sie den Kopf. Über sich selbst, über das Schicksal und über ihre Bank. Die Dresdner Bank war es, die Roeßner im Februar 2007 Lehman-Zertifikate verkaufte. Ihre Bundesschatzbriefe waren abgelaufen, sie wollte eine neue Geldanlage, möglichst sicher. Das Geld sollte wie bei so vielen die Altersvorsorge sein. Ihr Berater schlug vor, 5.000 Euro in Lehman-Zertifikaten anzulegen und 3.000 Euro in andere Zertifikate. Sie wollte kleiner stückeln, er nicht, versprach ihr dafür eine Sicherheitsgarantie: "Verlieren können Sie nichts." Sie gab nach. "Ein Fehler", sagt sie heute.

Im Frühjahr 2008 stellte sie fest, dass von den 8.000 Euro nur noch 7.000 Euro übrig waren. "Da bin ich zur Bank marschiert. Doch der Berater hat mich belabert und gesagt, das sind gute Papiere, er hätte da auch angelegt." Mit mulmigem Gefühl ging sie wieder nach Hause.

Am 22. November 2008 kam dann ein Brief von der Dresdner Bank. Darin stand, dass der Höhepunkt der Finanzkrise nun erreicht sei, die Bank bat um ein Gespräch. "Ihre Zertifikate werden nicht mehr gehandelt", sagte der Bankberater. Roeßner sagte nichts. Dann wurde sie wütend, erzählt sie. "Wie geldgeil muss man denn sein", warf sie ihm an den Kopf. Eigentlich drücke sie sich nicht so aus, erklärt sie heute. "Doch ich dachte, da zieht mir jemand den Schemel unter dem Hintern weg." Sie setzte durch, dass wenigstens die Zertifikate, die nicht von Lehman waren, verkauft wurden - mit 500 Euro Verlust. "Ich habe keine Hoffnung, das Geld noch wiederzusehen", sagt sie.

Das sehen nicht alle so, die an diesem Abend beim Stammtisch diskutieren. Zwar wissen sie längst, dass weder der Einlagesicherungsfonds ihnen helfen kann noch das Versprechen von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die Spareinlagen seien sicher. Denn Zertifikate sind keine Spareinlagen. Einige setzen daher auf eine Klage wegen Falschberatung. Andere halten eine politische Lösung, eine Art Rettungsschirm für Verbraucher, für wahrscheinlich.

Bei vielen ist es die Hoffnung, bei einigen auch die Verzweiflung, die sie auf die Straße treibt. Fast versteckt an einer Garderobe in der Ecke hängt eines der Plakate, das auf jeder Demo dabei ist: "citi, citi, gib uns unsere wieder" steht darauf. Den meisten der Geschädigten hier hatte die Citibank die heute wertlosen Zertifikate verkauft.

Ein Donnerstagnachmittag in der Friedrichstraße: Vier der Stammtischbesucher stehen vor der Citibank. Auch das Protestplakat ist mit dabei. "Mahnwache" nennen die Demonstranten ihre Aktion, zwei Stunden verteilen sie Flyer, sprechen die Menschen an. Oder werden angesprochen. Die Aktion direkt vor der Tür der Bank zieht die Blicke der Kunden auf sich, viele lassen sich Zettel in die Hand drücken. "Hätte ich nicht Festgeld hier, wäre ich auch schon längst bei einer anderen Bank", sagt eine Frau, die aus der Filiale kommt. Der Ruf der Citibank ist mit der Finanzkrise nicht besser geworden.

Nur eine Handvoll Demonstranten steht jeweils donnerstags vor der Bankfiliale. Denn die Protestler wollen mit ihren Kräften haushalten, sie stellen sich auf einen langen Kampf ein. Von Monaten sprechen einige, andere von Jahren. Inzwischen kursieren viele Geschichten zu den Mahnwachen: Eine Bankfiliale soll Kunden nur nach Gesichtskontrolle eingelassen haben. Eine andere in Charlottenburg schloss zwei Stunden früher als gewöhnlich und verwies ihre Kunden auf Niederlassungen in Wilmersdorf und Mitte. Mittlerweile haben sich die meisten Filialen mit den Mahnenden vor der Tür abgefunden. Auch ein Mitarbeiter in der Friedrichstraße winkt nur ab. "Was soll ich machen?", fragt er.

Die Betroffenen suchen nach immer neuen Aktionsformen, um auf sich aufmerksam zu machen. So wie Lee Wen-jun*, 36, Kundin der Citibank. 6.000 Euro steckte sie in Lehman-Zertifikate. Wen-jun brachte zu ihrer letzten Demonstration Dutzende Rollen Klopapier und ein Plakat mit. "Shittibank - hier werden Sie beschissen" war im Design der Bank zu lesen. "Ich will zeigen, dass ich meinen Mund nicht zumache", sagt sie. Sie protestiert lautstark - auch wenn die Zeit, zu der sie klagen kann, wegen der Verjährungsfrist von drei Jahren in diesem Jahr abläuft, auch wenn ihre Bankberaterin seit der Lehman-Pleite nicht mehr erreichbar ist, auch wenn sie mit dem Geld ihre Dissertation veröffentlichen wollte und jetzt nicht weiß, woher sie die finanziellen Mittel nehmen soll.

Der Verlust hat sie kritisch gemacht. "Jeder kann beschissen werden, es hat mit dem System zu tun", sagt sie jetzt. Viele der anderen Stammtischbesucher sehen es ähnlich. Aufmerksam verfolgen sie, welche Entscheidungen die Politik trifft, welche Parteien sich für Entschädigungen oder Neuregelungen in der Beratung starkmachen - und welche nicht. "Bald sind Wahlen", sagt eine der Geschädigten. Sie weiß noch nicht, wem sie ihre Stimme gibt. Aber die Diskussionen in der Kegelkneipe werden bei ihrer Entscheidung sicher eine Rolle spielen.

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