Mauergedenken: Die Gesichter der tödlichen Fluchten

Wie viele Menschen starben an der Berliner Mauer? Wer waren sie? Eine wissenschaftliche Dokumentation gibt nun erstmals genaue Auskunft - abseits der bislang üblichen Ideologie.

Die ersten Schüsse fielen elf Tage nach dem Bau der Berliner Mauer. Nahe dem Reichstag versuchte am 24. August 1961 ein Mann die Spree in Richtung Westen zu durchschwimmen - und wurde entdeckt. Erst gaben die Grenzer aus dem Osten Warnschüsse ab, dann zielten sie genauer. Mehrfach am Kopf getroffen versank der Flüchtling im Wasser. Günter Litfin war der erste Mauertote.

28 Jahre später, am 5. Februar 1989, näherten sich zwei junge Burschen der Grenze in Britz. Einer von ihnen hieß Chris Gueffroy, ein 21 Jahre alter Ostberliner. Anfangs ging alles gut. Bis zum letzten Zaun. DDR-Soldaten spürten die beiden auf und nahmen sie sofort unter Beschuss. Gueffroy traf die Kugel ins Herz. Er starb an der Mauer.

Dorit Schmiel wird 1941 in Berlin geboren, sie wächst im Bezirk Pankow auf. Zum Zeitpunkt des Mauerbaus arbeitet sie als Schneiderin in einem VEB und wohnt bei ihrem Verlobten Detlef T. Für das Paar und drei enge Freunde wird die Situation durch die Abriegelung unerträglich, sie stören sich an den ideologischen Vorgaben. Zu fünft entschließen sie sich, in der Nacht zum 19. Februar 1962 nach Westberlin zu fliehen.

Kurz nach Mitternacht schneiden die jungen Leute mit einer Drahtschere ein Loch in den ersten Zaun der Sperranlage an der Grenze zwischen dem Pankower Ortsteil Rosenthal und dem Bezirk Reinickendorf. Dann robben sie durch den Schneematsch, erreichen beinahe die letzten beiden Zaunreihen, als drei Grenzer ohne Vorwarnung das Feuer eröffnen. Dorit Schmiel erleidet einen Bauchdurchschuss. Die jungen Leute werden aufgefordert, sich zu erheben. Schmiel kann nicht, sie blutet stark und weint vor Schmerzen. Am Ende habe man sie "wie ein Stück Vieh" an Armen und Beinen gepackt und weggetragen, erinnert sich Detlef T. Sie wird ins Volkskrankenhaus Berlin-Mitte gebracht und erliegt dort wenig später ihren Verletzungen.

Peter Fechter wird 1944 in Berlin geboren und wächst im Bezirk Weißensee auf. Vor der Gesellenprüfung zum Maurer lernt er Helmut K. kennen. Am 17. August 1962, wenige Tage nach dem Mauerbau, entschließen sich die jungen Männer kurzerhand zur Flucht. Doch während Helmut K. die Grenzsperren in der Zimmerstraße überwindet, bricht Fechter im Kugelhagel zusammen. Die Bilder des sterbenden Flüchtlings gehen um die Welt.

Cengaver Katranci wird 1964 geboren. Der türkische Junge lebt mit seiner Mutter und drei Geschwistern in Kreuzberg. Am 30. Oktober 1972 spielt der Achtjährige mit einem Freund auf der Böschung der Spree am Kreuzberger Gröbenufer. Cengaver verliert das Gleichgewicht und stürzt ins kalte Wasser, das hier schon zur DDR gehört. Als die Westberliner Polizei eintrifft, ziehen sich die Verhandlungen zur Rettung des Jungen mit den Grenztruppen auf der 100 Meter entfernten Oberbaumbrücke hin. Taucher warten vergeblich auf die Erlaubnis, ins Wasser springen zu dürfen.

Eineinhalb Stunden nach dem Unglück trifft ein Ostberliner Rettungsboot ein. Ein Taucher birgt die Leiche des Kindes, schwimmt aber nicht zum Westufer, sondern zurück zum Rettungsboot - sein Verhalten hätte als Fluchtversuch gewertet werden können. Bis zuletzt darf die Westberliner Feuerwehr nicht eingreifen. Am Abend erhält die Mutter die Erlaubnis, in Ostberlin die Leiche in der Charié zu identifizieren. ALEXANDRA GDANIETZ

Litfin und Gueffroy sind der erste und der letzte Flüchtling, die zwischen 1961 und 1989 durch Schüsse an der Berliner Mauer ums Leben kamen. Dass sie zu fliehen versuchten, skandalisierten im Westteil der Stadt die Medien. Und selbst im Ostteil wusste man vom Hörensagen von den beiden sowie über Ida Siekmann oder Peter Fechter Bescheid. Ihr Tod an der Mauer wurde bekannt, löste Entsetzen und Betroffenheit aus.

Weit weniger präsent ist selbst 20 Jahre nach dem Fall der Mauer das Schicksal der Mehrzahl von Mauerflüchtlingen. Wer waren diese Menschen, wie kamen sie ums Leben, wie viele Opfer sind zu beklagen? All das blieben unbeantwortete Fragen. Zugleich beherrschte Ideologiesierung das Terrain. Nach einer etwa von der konservativen "Arbeitsgemeinschaft 13. August" vorgelegten Zahl sollen 313 Menschen an der Mauer gestorben sein.

Mit der Vorlage der ersten wissenschaftlichen Aufarbeitung der Todesfälle an der Mauer ist nun diese Lücke geschlossen worden. Das am Dienstag - kurz vor dem 13. August - vorgestellte Handbuch "Die Todesopfer an der Berliner Mauer" ist das Resultat eines mehrjährigen Forschungsprojekts des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) und der Stiftung Berliner Mauer. Nach Auskunft von Martin Sabrow und Hermann Hertle (beide ZZF) liegen damit "erstmals quellengestützte und überprüfbare Angaben über die Mauertoten vor, die zwischen 1961 und 1989 starben".

Während der Teilung sind mindestens 136 Menschen aus dem Ost- und Westteil an den Grenzsperranlagen ums Leben gekommen. 98 der von den Wissenschaftlern dokumentierten Todesopfer waren DDR-Flüchtlinge - Frauen, Männer und neun Kinder -, die versuchten, über die Sperranlagen nach Westberlin zu gelangen, und dabei erschossen wurden oder verunglückten. Unter den Todesopfern waren aber auch 30 Menschen aus Ost und West, die keine Fluchtabsichten hatten - wie Badende in der Spree beispielsweise - und dennoch erschossen wurden. Auch acht DDR-Grenzer, die von Fahnenflüchtigen, Flüchtlingen oder Fluchthelfern getötet wurden, listen die Historiker vom ZZF und der Stiftung Mauer-Gedenkstätte auf. Außerdem verstarben 251 Reisende während der Grenzkontrollen in Dreilinden/Drewitz. 16 Fälle bleiben "ungeklärt", in 8 laufen noch die Recherchen.

Dass neben den historischen Daten aus den Archiven der Westberliner Behörden, der Staatssicherheit und DDR-Grenzpolizei zugleich auch die biografischen Hintergründe, Motive und Todesumstände der Opfer durch neue umfangreiche Quellen und Materialien dokumentiert sind, ist die besondere Leistung des Handbuchs. Damit sollen die Toten "dem verordneten Vergessen des SED-Regimes wieder entzogen werden", sagte Sabrow.

Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) lobte das "eindrucksvolle" Erinnerungs- und Gedenkprojekt, das sein Ministerium mit 280.000 Euro gefördert hatte. Nach seiner Ansicht leiste die vorgelegte Dokumentation einen wichtigen Beitrag, das "DDR-Unrecht vor allem für jüngere Menschen fassbarer zu machen".

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.