Kiezkunde in Berlin-Wedding: "Die Jugendlichen sind die Experten"

Als Stadtführer setzen sich Jugendliche mit ihrem Kiez auseinander. Das macht sie zu Experten - und migrantische Kids zu hier verwurzelten Berlinern.

taz: Frau Liebsch, Sie entwickeln im Projekt "Ich bin ein Berliner" seit sechs Jahren Stadtführungen mit Jugendlichen - auch aus Migrantenfamilien. Warum?

RENATE LIEBSCH, 57, Sozialwissenschaftlerin, arbeitet seit sechs Jahren im Projekt "Ich bin ein Berliner" des Vereins FIPP e. V.

Renate Liebsch: Wir versuchen zwei Ausgangslagen zusammenzubringen. Zum einen, dass diese Jugendlichen schlechte Berufschancen haben. Zum anderen, dass Berlin eine Stadt des Tourismus geworden ist.

Wie passt das zusammen?

Viele Jugendliche mit Migrationshintergrund haben Fähigkeiten, die im Tourismus gefragt sind: Zweisprachigkeit, Neugier, kommunikative Kompetenz. Viele müssen in den von Verwandten geführten Geschäften mitarbeiten und sind von daher an Kundenkontakte gewöhnt. Oder sie müssen in der Familie helfen und entwickeln so starke soziale Kompetenzen. Das sind Voraussetzungen, auf die man in der Berufsorientierung aufbauen kann.

Sie helfen nicht nur beim Übergang in den Beruf, Sie haben auch Stadtführungen von Jugendlichen entwickelt

Meine Kollegin hat mal in Olinda in Brasilien erlebt, wie Jugendliche ihr Stadtviertel Touristen zeigten. Sie fand, dass wir das in Kreuzberg auch probieren sollten. Begonnen haben wir mit Neuntklässlern der Eberhard-Klein-Oberschule, jener Kreuzberger Schule, an der keine Schüler und Schülerinnen mehr sind, deren Muttersprache Deutsch ist. Zuerst haben die Jugendlichen die Stadt erkundet und dann gemeinsam überlegt, was sie Touristen zeigen könnten.

Was haben sie davon?

Dieses Bildungskonzept knüpft nicht an ihre Defizite, sondern ihre Kompetenzen an. Das macht für die Jugendlichen den großen Unterschied. Jetzt sind sie die Experten für etwas. Das motiviert ungemein und schließt sie für neue Bildungsinhalte auf. Die Jugendlichen recherchieren im Internet, was das für Gebäude in ihrer Umgebung sind. Sie sammeln Informationen, bereiten sie auf, befragen Leute, präsentieren sich selbst - und machen das alles auf Deutsch, was normalerweise nicht ihre Alltagssprache ist. Außerdem üben sie sich in Zuverlässigkeit. Sie lernen zu planen und vor Fremden zu sprechen. "Ich hätte nie gedacht, dass ich vor so vielen Leuten reden kann", sagen sie. Das sind alles Dinge, die wichtig sind, wenn man sich bewirbt.

Die Teenies werden Akteure?

Zumindest wird das Bild, dass sie Gäste oder gar Fremde in der Stadt sind, aufgebrochen. Jetzt gehören sie dazu. Die Jugendlichen eignen sich ihre Umgebung an und lernen, dass man etwas aus verschiedenen Blickwinkeln beobachten kann.

Zum Beispiel?

Sie entwickeln ein anderes Verhältnis zu ihrem Kiez. Es überrascht sie, dass etwas, das sie uninteressant finden - ihre Schule zum Beispiel - von Gästen schön gefunden wird. Manche Mädchen mit Kopftuch wiederum staunen, dass man sich einfach neugierig über Religion austauscht, ohne zu bewerten. Sie machen die Erfahrung, dass sie was zu sagen haben und andere zuhören. Umgekehrt erfahren sie etwas über die Lebenswelten der Gäste. Auch die Touristen erleben einen Perspektivwechsel. Das Bild, das die Medien früher von Kreuzberg gezeichnet haben, wird aufgebrochen.

Wie sieht die Zukunft aus?

In einer Stadt wie Berlin müsste dies als Bildungskonzept in Schulen und als touristisches Angebot dauerhaft zu verankern sein. Wir haben gezeigt, dass es funktioniert, und suchen jetzt Unterstützung und Finanzierung.

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