Kinder machen Politik: Die Kiez-Nasen ergreifen das Wort

Als "Kiezdetektive" spüren Grundschüler Missstände in Friedrichshain-Kreuzberg auf und machen Politikern Vorschläge zur Verbesserung.

Ein letztes Mal übt Sidra ihren Text. Ihr Redefluss ist ruhig und gleichmäßig. Entweder die 10-Jährige hat viel geprobt, oder sie ist ein rhetorisches Talent. Als sie fertig ist, blickt sie von ihrem Zettel auf und schaut ihre Klassenkameradin Berna an. Die nickt anerkennend. Es kann also losgehen.

Im Saal der Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg herrscht eine ungewöhnliche Geräuschkulisse. 80 Kinderstimmen reden aufgeregt durcheinander. Einige der Grundschüler toben noch durch den Saal. Ingrid Papies-Winkler räuspert sich und spricht ins Mikrofon: "Ich begrüße ganz herzlich die Kiezdetektive." Langsam kehrt Ruhe ein.

Die "Kiezdetektive" sind ein Projekt der Plan- und Leitstelle Gesundheit der Bezirksverwaltung Friedrichshain-Kreuzberg. Im Jahr 1999 machten sich zum ersten Mal Schülergruppen unter der Anleitung von Lehrern und Mitarbeitern der Verwaltung auf, um "Probleme" und "Schätze" in ihrer Umgebung ausfindig zu machen. Mit Erfolg: In den vergangenen Jahren wurden auf Anregung der kleinen Spürnasen Spielplätze saniert, Zebrastreifen angelegt und eine viel befahrene Spielstraße durch Schwellen beruhigt.

In diesem Herbst waren zum achten Mal Schüler auf Erkundungstour durch ihr Viertel, bewaffnet mit Kamera, Block und Stift. Ingrid Papies-Winkler von der Plan- und Leitstelle Gesundheit leitet das Projekt und hat die Kiezdetektive nun zu einer Anhörung mit Vertretern der Bezirksverwaltung ins Rathaus eingeladen. Nachdem sie Bezirksbürgermeister Franz Schulz und einige Stadträte unter begeistertem Applaus der Kinder begrüßt hat, tragen Vertreter der vier beteiligten Grundschulen ihre Ergebnisse vor.

Als erstes ist die 3a der Adolf-Glaßbrenner-Grundschule an der Reihe. Ein blonder Junge mit Brille tritt vor, er moniert den abblätternden Putz der Gebäude an der Wartenburgstraße und fehlende Zebrastreifen auf dem Weg zur Schule. "Und die Leute schmeißen zu viel Müll auf die Straße", fügt ein Mädchen mit braunem Pferdeschwanz und rosa Spangen hinzu.

Die Schüler der 4a der Fichtelgebirge-Grundschule nehmen dagegen Anstoß an Werbeplakaten mit halbnackten Menschen. "Das ist peinlich für uns. Wir möchten das nicht sehen." Ein weiteres schwerwiegendes Problem: der Drogenhandel im Viertel. "Das kann doch nicht sein, dass die schon Kinder wie uns ansprechen." Das Plenum klatscht. So viel Enthusiasmus würde jeder Bundestagsdebatte zu Ehre gereichen.

Dann kommt Sidras großer Auftritt. Entschlossen tritt sie ans Mikrofon. Fast frei trägt sie die wichtigsten Anliegen der 5a der Galilei-Grundschule vor. Auch sie nennt den Drogenhandel als eines der größten Probleme und hat sogar eine Lösung parat: "Da muss das Ordnungsamt mehr kontrollieren." Abschließend fügt sie wie eine ausgewachsene Bezirkspolitikerin hinzu: "Ich wünsche mir, dass sich in unserem Kiez etwas verbessert, und bedanke mich für die Aufmerksamkeit."

Die Vertreter der 4b der Otto-Wels-Grundschule sind alte Hasen unter den Kiezdetektiven: Sie waren schon im letzten Jahr dabei. Damals benannten sie nicht nur den Hundekot auf Kreuzberger und Friedrichshainer Straßen als Problem, sondern unternahmen auch etwas dagegen. "Wir haben ein großes Plakat gemacht und Tüten darangehängt." Für dieses Engagement wurden sie vom Bundesfamilienministerium im Rahmen des Programms "Platz für Helden" ausgezeichnet. Neben dem Ruhm des Politikgeschäfts hat die 4b aber auch schon dessen harte Realität kennen gelernt: "Leider wurden die Tüten sofort abgerissen und geklaut." Und das Tretminenaufkommen hat sich im vorigen Jahr auch nicht spürbar gebessert. Trotzdem: von Resignation keine Spur, schließlich haben die Detektive das Thema erfolgreich auf die Bezirksagenda gesetzt. Und der Verein "Stadt und Hund" hat zusammen mit der Verwaltung einen neuen Plan entwickelt: "Wir suchen Paten für Tütenspender, die dafür sorgen, dass auch immer welche da sind", verkündet Peter Beckers, der für das Ordnungsamt zuständige Stadtrat.

Das hört sich gut an. Eine andere unbequeme Wahrheit ist aber, dass sich Probleme mitnichten lösen, nur weil man sie als solche erkannt hat. Und so präsentieren die Bezirkspolitiker bei der Anhörung lediglich Absichtserklärungen. So einfach abspeisen lassen sich die Kiezdetektive jedoch nicht. Im April gibt es einen weiteren Termin im Rathaus, dann werden die Ergebnisse ausgewertet. Die Kinder sollen wie schon im Fall der 4b an der konkreten Problemlösung beteiligt werden. "Das stärkt ihr Verantwortungsbewusstsein für ihre Umgebung", weiß Papies-Winkler.

Nach einer kinderfreundlich kurzen Dreiviertelstunde ist die Anhörung vorbei. Draußen warten Obstspieße, Stollen und Saft auf die Detektive, aber statt am Buffet drängeln sich die Kleinen vor dem Podium. Alle wollen Autogramme der wichtigen Bezirkspolitiker. "Ich hab alle Unterschriften bekommen!", ruft ein kleiner Junge und hält stolz sein Blatt hoch. "Autogramme hab ich noch nie gegeben", sagt Bürgermeister Schulz, halb amüsiert, halb geschmeichelt. Aber ganz wie ein Profi fragt er ein kleines Mädchen nach ihrem Namen, malt ein kleines Bild auf ihren Zettel und setzt "für Luzia" darüber.

Augenscheinlich macht es den Kindern Spaß, sich detektivisch zu betätigen und in direkten Kontakt mit Bezirkspolitikern zu treten. Um jedoch genau zu wissen, ob sie sich ernst genommen fühlen, wie das Projekt ihre Wahrnehmung verändert und ob es sie zu Engagement motivieren kann, soll es nach der zweiten Anhörung eine Evaluation geben. Die wurde in Kooperation mit dem Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) entwickelt.

Zumindest heute im Rathaus nutzen die Kinder ihre Partizipationsmöglichkeiten. Brav werfen sie auf dem Weg zum Buffet Zettel mit ihren Anregungen in die dafür vorgesehenen Behälter. Für die positive Kritik steht eine Schatztruhe bereit. "Negative" Kritik landet in einem großen blauen Müllsack. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.