Schulschwänzer: "Die Lehrer hier sind voll gechillt"

Früher glänzten sie in der Schule vor allem durch Abwesenheit. Das Projekt "Arbeiten und Lernen" bietet Schulschwänzern neue Perspektiven - dank guter Betreuung und viel praktischer Arbeit.

Gängige Schulschwänzerbeschäftigung: Gechilltes Daddeln an der Konsole Bild: AP

Irgendwie ist Cengiz die Haltung des cool Desinteressierten in Fleisch und Blut übergegangen. Dass er sich für das Thema der heutigen Geschichtsstunde, den Zweiten Weltkrieg, interessiert und auch einiges darüber weiß, ist offensichtlich. Doch die an der Tischkante wie eine Schutzmauer hochgezogenen Unterschenkel, der weit nach hinten gelehnte Oberkörper, der zurückgebeugte Kopf verbreiten um den 16-Jährigen die abwehrbereite Komm-mir-bloß-nicht-zu-nah-Aura, die auf Kreuzbergs Straßen gefragt ist. Dabei beantwortet der junge Mann mit den zu einem Pseudoirokesen zusammengegelten Haaren jede Frage nach Staaten und Kontinenten ebenso lässig wie richtig; er hakt sogar nach, um die Hausaufgabe für die nächste Stunde richtig zu verstehen.

Das war nicht immer so, und das ist der Grund dafür, warum Cengiz hier ist: Hier, das heißt im Schulprojekt "Arbeiten und Lernen", das das Pestalozzi-Fröbel-Haus mit anderen Kooperationspartnern in Friedrichshain-Kreuzberg betreibt. Früher, an seiner alten Schule, glänzte Cengiz vor allem durch eins: Abwesenheit. Hier im Schulprojekt schafft er es regelmäßig zum Unterricht. Auch sein zweiwöchiges Praktikum bei einem Bäcker, wo er jeden Morgen um vier Uhr anfangen musste, hat er durchgehalten - und es hat ihm sogar Spaß gemacht. Vorsichtig entwickelt der Jugendliche Zukunftsperspektiven: "Erst mal den Abschluss schaffen." Und dann? Cengiz Stimme wird leiser: "Eine Ausbildung wäre super."

Zu erklären, warum bei "Arbeiten und Lernen" alles so viel besser für sie läuft, fällt Cengiz und den beiden anderen Jugendlichen, mit denen er heute im Geschichtsunterricht sitzt, nicht schwer: "Die Lehrer hier sind voll gechillt, die heulen nicht gleich rum", sagt der 17-jährige Nzuzi. Früher hat er eine Gesamtschule in Friedrichshain besucht und dort "entweder geschwänzt oder die Lehrer geärgert".

Denise, eins der wenigen Mädchen im Projekt, findet vor allem die kleinen Gruppen gut. Und dass die Lehrer viel Zeit für jeden Einzelnen haben: "Jeder hat einen Lehrer, der für ihn zuständig ist, und alle zwei Wochen gibt es ein Gespräch darüber, ob man Fortschritte gemacht und seine Ziele erreicht hat." Die 14-Jährige ist schon an der Grundschule nicht klargekommen. Den Wechsel zur Oberschule hat sie gar nicht verkraftet: Ein ganzes Jahr lang ist das Mädchen einfach nicht zur Schule gegangen. Dann hat das Jugendamt sie zu "Arbeiten und Lernen" geschickt.

33 Kinder und Jugendliche werden in den Räumen des Projektes auf dem Kreuzberger Bethaniengelände zurzeit betreut - 10 Grund- und 23 OberschülerInnen. Hier haben sie weniger Schulstunden als an der Regelschule: Sieben bis neun Unterrichtsblöcke wöchentlich werden den OberschülerInnen in Kernfächern wie Deutsch und Mathe, Natur- und Gesellschaftswissenschaften erteilt. Die Lehrer dafür kommen tageweise von den Schulen, mit denen das Projekt kooperiert.

In der restlichen Zeit steht praktische Arbeit auf dem Stundenplan. Fünf handwerkliche Arbeitsbereiche bietet das Projekt: von der Schlosserei über Elektroinstallation bis zu Gartenarbeiten. Dafür sind vier Werkpädagogen mit entsprechenden handwerklichen Qualifikationen angestellt. Karl Antony, Leiter des Projekts "Arbeiten und Lernen", hat neben einem Pädagogikstudium eine Ausbildung zum Steinmetz absolviert. In das von ihm vor sechs Jahren mitentwickelte und -gegründete Projekt sind auch seine eigenen Lebenserfahrungen eingeflossen: "Ich bin in einer großen Familie mit landwirtschaftlichen Betrieb aufgewachsen. Da lebte und arbeitete man zusammen."

Die Erfahrung, dass sie nützliche Arbeit leisten können, machen auch die Jugendlichen in seinem Projekt. Handwerkliche Arbeit ist bei "Arbeiten und Lernen" keine bloße Beschäftigungstherapie. Die Jugendlichen übernehmen sinnvolle Aufgaben im öffentlichen Raum: Sie haben zusammen mit dem Gartenbauamt bei der Renovierung und Bepflanzung des Mariannenplatzes geholfen, bauen Möbel für Jugendprojekte und wollen auf dem Bethaniengelände Gärten für die Kiezbewohner anlegen.

"Die Schüler sollen erleben, dass es die Möglichkeit gibt, dem Kiez, in dem sie leben, nützlich zu sein", sagt Antony. Und dabei mit den Bewohnern in Kontakt kommen. Denn auch die sollen lernen: Die Jugendlichen können was. Derzeit bauen die Schüler des Projektes Holzhäuser auf einem dem Pestalozzi-Fröbel-Haus gehörenden Gelände am südlich von Berlin gelegenen Mellensee. Dort können dann Familien aus Friedrichshain-Kreuzberg zur Naherholung hinfahren.

Dass solche Erfahrungen ihre Kinder verändern, erleben auch die Eltern. Sie sind in die Arbeit des Projektes eng einbezogen, auch mit ihnen werden regelmäßig Gespräche geführt, im Projekthaus sind sie jederzeit willkommen. Vier Mütter sitzen heute im Büro von Projektleiter Antony, der ihnen Kaffee serviert. Buraks schulische Leistungen seien besser geworden, erzählt dessen Mutter Hatice: "Er hat hier zum ersten Mal Erfolgserlebnisse!" Und auch Cengiz Mutter Roswitha ist froh über die Entwicklung ihres Sohnes: Er sei ruhiger geworden und helfe ihr sogar im Haushalt.

Intensiver Kontakt zu den Schulen ihrer Kinder ist für die Mütter nichts Neues: "Den hatten wir früher ja auch schon - notgedrungen", sagt eine Mutter. "Aber eher negativ: Wenn es mal wieder Ärger gab, wurde man einbestellt." "Elternmobbing" sei das gewesen, sagt eine andere: "Es wurde ständig Druck auf uns ausgeübt, weil unsere Kinder ja die Problemkinder waren." Hier dagegen werde man unterstützt und entlastet: "Hier wird niemals abgelehnt, wenn Eltern sich einbringen wollen."

Auch wenn das Ziel des Projektes die "Reintegration schuldistanzierter Jugendlicher" an die Regelschulen ist: Die meisten Eltern wünschen sich ebenso wie die SchülerInnen, die Schulzeit hier beenden zu können. Den Haupt- und den Mittleren Schulabschluss kann man in dem Projekt machen: "Das schaffen in der Regel acht von zehn Jugendlichen", sagt Karl Antony.

Die Kooperation mit fünf Haupt- und Gesamtschulen erfüllt neben dem Zweck der Reintegration der SchülerInnen noch den der Sensibilisierung: Die von den Partnerschulen ans Projekt "ausgeliehenen" Lehrer sollen ihre Erfahrungen an ihren Schulen einsetzen. "Viele Schulen reagieren zu spät auf Signale, die zeigen, dass ein Kind nicht mehr mitkommt", sagt Karl Antony. Wegen zu großer Klassen und Arbeitsüberlastung der Lehrer seien zudem die Reaktionsmöglichkeiten auf solche Warnsignale sehr eingeschränkt. Das Pestalozzi-Fröbel-Haus hat deshalb an vier Oberschulen des Bezirks werkpädagogische Klassen nach dem Vorbild des Kreuzberger Projektes eingerichtet.

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