Plädoyer für Pro Ethik: "Die Scharia ist unseren Werten entgegengesetzt"

Die Aleviten kämpfen gegen Pro Reli. Auch, weil der Senat bei einem Erfolg des Volksentscheids alevitischen und islamischen Unterricht fusionieren will. "Wir sind keine Muslime", so Devrim Nacar, Vorstand der alevitischen Gemeinde.

taz: Frau Nacar, sind Sie religiös?

Devrim Nacar: Im gesunden Sinne: ja.

Was heißt das?

Nach meiner Auffassung betrifft die Religion mein Innerstes und geht nur mich etwas an. Ich bin nach außen neutral.

Sie sind im Vorstand der alevitischen Gemeinde.

Die alevitischen Werte sind für mich wichtig, weil sie mich geformt haben. Aber wenn Sie mich fragen, ob ich unsere Fastenzeit einhalte, dann muss ich Nein sagen.

An was glauben Sie?

Ich glaube daran, dass die Kraft in den Menschen liegt. Ich glaube weder an die Hölle noch an ein Paradies. Ich glaube aber daran, dass man mit menschlicher Stärke und Entschlossenheit auf dieser Welt sehr viel erreichen kann.

Gott haben Sie bisher nicht erwähnt.

Im Alevitentum ist Gott sehr speziell definiert. Gott ist in dir. Du bist ein Teil Gottes. Insofern liegt die göttliche Kraft im Menschen selber. Gott ist nicht wie in anderen Buchreligionen ein Wesen oder ein Geschöpf, das irgendwann bestimmt, wer ins Paradies und wer in die Hölle kommt.

Warum ist Ihnen diese Religion, die Ihre Eltern aus der Türkei mitgebracht haben, denn so wichtig?

Das Alevitentum ist für mich eine Lebensphilosophie, die auch religiöse Inhalte hat, sich aber vor allem auf den Charakter des einzelnen Individuums bezieht. Es geht nicht um eine übergeordnete Kraft. Das verantwortliche Individuum ist das zentrale Thema dieser Religion. Der Kern des Alevitentums und die Werte des Humanismus sind sehr nah beieinander.

Sprechen sich die Aleviten deshalb gegen Pro Reli aus?

Eigentlich müssten wir für Pro Reli sein, denn viele unserer Kinder und Jugendlichen wissen wenig über ihre Religion, die in der Türkei seit Jahrhunderten verdrängt wird. Aber wir müssen als verantwortliche Individuen abwägen: Was dient uns, was dient der Allgemeinheit? Wir halten den Ethikunterricht für einen sehr wichtigen Beitrag zur Integration. Wir verstehen ihn als einen Ort, an dem die SchülerInnen auf neutralem Boden unterschiedliche Einstellungen, Werte, Riten kennen lernen können, ohne sich öffentlich festlegen zu müssen.

Ihre Gemeinde erteilt selbst Religionsunterricht an einigen Grundschulen.

Solange alevitische Kinder an vielen Schulen ausgegrenzt werden - zur islamischen Fastenzeit hören wir immer wieder, dass Kinder von Mitschülern angegriffen werden, weil sie nicht fasten -, sehen wir uns in der Pflicht, diesen Unterricht anzubieten, um das Selbstbewusstsein der Kinder zu stärken. Damit sie sich nicht schämen, alevitisch zu sein. Wir bieten aber keinen Unterricht an Oberschulen an, weil wir denken, dass deren SchülerInnen alt genug sind, sich selber über ihre Religion zu informieren, wenn sie das möchten.

Sollte "Pro Reli" Erfolg haben, will der Senat Ihren Unterricht und den der Islamischen Föderation zusammenlegen.

Das wäre ebenso unsinnig, wie den evangelischen und den katholischen Unterricht zusammenzufassen. Wir sind keine Muslime. Wir sind vom Islam geprägt, aber eine eigene Glaubensgemeinschaft. Bei uns gibt es den Glauben an die Reinkarnation, es gibt keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen - das ist nach islamischen Vorstellungen doch total ketzerisch! Das islamische Rechtssystem dagegen, die Scharia, ist alevitischen Werten total entgegengesetzt.

Welche Rolle spielt der Koran?

Es gibt wenig Aleviten, die gelernt haben, den Koran zu lesen. Das sind in der Regel solche, die in der Türkei sozialisiert worden sind. Ich kenne keinen Aleviten in Berlin, der freiwillig in eine Koranschule gegangen ist, um den Koran zu lesen.

Welche schriftlichen Überlieferungen gibt es denn in Ihrer Religion?

Die Aleviten werden seit Jahrhunderten verfolgt. Weil sie als Häretiker betrachtet wurden, galt für sie die Todesstrafe. Religiöses Wissen und die entsprechenden Schriften wurden deshalb in sogenannten heiligen Familien weitergegeben, für Außenstehende nicht zugänglich und auch nicht für jeden Aleviten. Viele religiöse Kenntnisse wurden mündlich überliefert. Darum spielt die Langhalslaute, die "Saz", so eine wichtige Rolle bei uns: Mit ihren Liedern wurde und wird auch heute noch viel weitergegeben. Insofern sind wir eher eine mündlich tradierte und keine Buchreligion. Das Alevitentum ist offener, während Buchreligionen durch die festgeschriebenen Regeln starrer sind.

Es gibt aber auch die Dedes, die Oberhäupter der heiligen Familien, die viel Macht haben und nicht selten eher konservativ sind. Was sagen die denn zu Ihrer Haltung, Aleviten seien keine Muslime?

Die Dedes sind seit Jahrhunderten die Bewahrer der Tradition. Natürlich gibt es unter ihnen Konservative, die sagen: Wir sind so stark vom Islam beeinflusst, dass wir ein Teil des Islams sind. Aber der Islam ist klar definiert: Nur wer seine fünf Säulen - das Glaubensbekenntnis, das Beten, die Almosen, das Fasten und die Pilgerreise nach Mekka - praktiziert, ist Muslim. Das tun wir nicht. Viele ältere AlevitInnen sind von ihrer Sozialisation in der Türkei geprägt, wo ein starker Assimilationsdruck auf den Aleviten liegt. Wir Jüngeren sind hier in Freiheit groß geworden und sagen klipp und klar: Wir sind eine eigene Religion.

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