Ausstellugnsmacher suchen Zeitzeugen: Die Suche nach vergessenen Rekorden

Zur Leichtathletik-WM bereiten Wissenschaftler eine Schau über drei jüdische Leichtathletik-Stars der 20er-Jahre vor, die von Nazis aus den Vereinen geworfen wurden. Die Recherche ist schwierig.

"Judenstern" - Zeichen sozialer Ausgrenzung, Demütigung und Diskriminierung von Juden im Deutschen Reich Bild: AP

Die Ausstellung "Vergessene Rekorde" wird zwischen 24. Juni und 23. August 2009 im Centrum Judaicum in der Oranienburger Straße zu sehen sein. Im Mittelpunkt stehen dabei Lilli Henoch, Gretel Bergmann und Martha Jacob. Alle drei wurden während des Nationalsozialismus aus ihren Vereinen geworfen. Der Arbeitsbereich Zeitgeschichte des Sports bereitet die Ausstellung in Zusammenarbeit mit dem Potsdamer Moses-Mendelssohn-Zentrum, dem Jüdischen Museum Berlin, dem Sportmuseum Berlin und dem Institut für Judaistik an der Freien Universität Berlin vor. Die Ausstellungsmacher suchen noch Zeitzeugen, Sachzeugnisse und Fotomaterial für die Schau. Nähere Auskünfte erteilt der Arbeitsbereich Zeitgeschichte des Sports telefonisch unter (03 31) 9 77-17 38 oder -11 64.

Für Gretel Bergmann hätte 1936 ein großartiges Jahr werden können: Vier Wochen vor der Olympiade stellte die Hochspringerin mit 1,60 Meter einen neuen deutschen Rekord auf und hätte bei den anstehenden Wettbewerben sicher zum Kreis der Medaillenaspirantinnen gezählt. Doch sie wurde aus dem Kader gestrichen, angeblich wegen Leistungsrückstand. Der wahre Grund: Die heute 95-Jährige, die unter dem Namen Lambert in den USA lebt, ist Jüdin.

Dabei hatten die Nationalsozialisten die erfolgreiche Sportlerin zuvor noch unter Bedrohung ihrer Eltern aus dem englischen Exil zurückbeordert. Dorthin war Bergmann geflüchtet, nachdem ihr Verein sie aufgrund der jüdischen Herkunft rausgeworfen hatte. Mit der Berliner Olympiade wollten die Nazis Deutschland der ganzen Welt als freies Land fern jeglichen Antisemitismus präsentieren. Tatsächlich nahm für Deutschland dann aber mit der Fechterin Helene Mayer nur eine jüdische Sportlerin teil. An das Schicksal Gretel Bergmanns und die ähnlichen Lebensgeschichten der Leichtathletinnen Lilli Henoch und Martha Jacob erinnert eine Ausstellung anlässlich der im Sommer anstehenden Leichtathletikweltmeisterschaften in Berlin.

"Zu Gretel Bergmann haben wir inzwischen Kontakt hergestellt", erzählt Berno Bahro, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Zeitgeschichte des Sports an der Universität Potsdam. Im dortigen Institut für Sportwissenschaften bereiten Forscher und Studierende bereits seit einem Jahr die Schau "Vergessene Rekorde" vor. Am 24. Juni, sieben Wochen bevor der Startschuss für die WM in Berlin fällt, feiert die Ausstellung im Centrum Judaicum Eröffnung. Sie gehört zum offiziellen Kulturprogramm der Leichtathletikweltmeisterschaften.

Noch bangen die Organisatoren der WM, ob sie denn genug Menschen für die Wettkämpfe begeistern und das Olympiastadion füllen können. "Da hätte man sich in den Zwanzigerjahren keine Gedanken machen müssen", sagt Bahro. "Die Leute waren damals richtiggehend Leichtathletik-krank, die Stadien bei Wettkämpfen randvoll." Auf den Rängen sei es dabei etwas anders als heutzutage zugegangen, ergänzt Bahros Kollegin Jutta Braun. "Sportfeste hatten damals eine Zuschauerkultur wie heute Theateraufführungen", erzählt die Historikerin. Mit Hut, Stock und in feinem Kleid sei man etwa ins Grunewaldstadion gepilgert, um die Wettbewerbe zu verfolgen.

Etwas ganz Neues und groß im Kommen sei dabei die Frauenleichtathletik gewesen. Zwar hielt Mann den 800-Meter-Lauf für zu anstrengend für Frauen und nahm ihn nach 1928 aus dem olympischen Programm. "Man war entsetzt, dass sich die Zweit- und Drittplatzierten nach dem Rennen unkontrolliert ins Grün fallen ließen, wobei man nicht einmal wusste, ob vor Enttäuschung oder Erschöpfung", erzählt Bahro. Doch der zunehmenden Popularität weiblicher Leichtathletik-Stars konnte dieser Paternalismus nichts anhaben. "Die Emanzipationsbewegungen nach dem Ersten Weltkrieg spiegeln sich auch im Sport wider", so der Geschichts- und Sportwissenschaftler.

Die Stars der Zwanzigerjahre hießen Lilli Henoch, Gretel Bergmann oder Martha Jacob. Henoch etwa wurde zwischen 1922 und 1925 jedes Jahr deutsche Meisterin im Kugelstoßen und Diskuswerfen, zweimal mit der 4-mal-100-Meter-Staffel und einmal im Weitsprung. 1926 lief sie mit der Staffel Weltrekord. Sogar auf dem Werbeplakat eines Schuhcremeherstellers wurde Henoch abgebildet - beim Diskusabwurf posierend. Doch je weiter die Nazifizierung Deutschlands voranschritt, desto mehr verschwanden jüdische SportlerInnen von der Bildfläche. "Wir haben diese drei Frauen ausgewählt, da sie damals herausragende Leistungen erbracht haben", sagt Jutta Braun. Aber sie ständen auch exemplarisch für die allgemeinen Entwicklungen im Sport Nazideutschlands.

Schleichend und von unten sei die Ausgrenzung von Jüdinnen und Juden bis 1936 gelaufen. "Von unten" heißt durch die Vereine. "Zwar wurden der Sport und seine Verbände damals zwangsweise gleichgeschaltet. In dieser Phase der Umstrukturierung gab es aber keine Anweisung, wie man mit Juden zu verfahren hätte", erklärt Bahro. "Sportvereine und teilweise die Verbände sind dann in vorauseilendem Gehorsam vorgeprescht und haben im Sinne der neuen Machthaber Arier-Paragrafen eingeführt." Am radikalsten seien dabei die Turner verfahren und sogar über die Nürnberger Rassengesetze hinausgegangen: "Akzeptiert wurden nur Mitglieder, bei denen alle Großeltern arisch waren", so Bahro.

Aus ihren Vereinen ausgeschlossen wurden auch Lilli Henoch, Gretel Bergmann und Martha Jacob. Henoch war noch Anfang 1933 von ihrem Berliner Sportclub (BSC) geehrt worden, erzählt Bahro. Einen Monat später wurde sie ausgeschlossen. Sie arbeitete dann als Sportlehrerin an der jüdischen Schule in der Rykestraße im Prenzlauer Berg. 1942 wurde Lilli Henoch mit ihrer Mutter nach Riga deportiert und dort ermordet.

Was Henoch angeht, so können die Ausstellungsmacher unter anderem auf Material von Martin-Heinz Ehlert, ehemaliger Hockey-Torwart und Vereinsmitglied beim BSC, zurückgreifen. Ehlert hatte schon einmal eine kleine Ausstellung zu Henochs Leben zusammengestellt, als die Sporthalle der Spreewald-Grundschule am Schöneberger Winterfeldtplatz nach der Ausnahmeathletin benannt wurde. In der Nähe, in der Treuchtlinger Straße, hatte Henoch gelebt. Ein Stolperstein erinnert dort an sie, ebenso wie ein jährliches Lilli-Henoch-Sportfest des BSC.

So vorbildlich wie der BSC stellt sich nicht jeder Verein seiner Vergangenheit. "In vielen Sportchroniken, die Vereine gern zu Jubiläen anlegen, kommt der Nationalsozialismus recht dünne weg", sagt Bahro. Aus dem Sport-Club Charlottenburg (SCC) Berlin war unter anderem die Speerwerferin Martha Jacob im März 1933 ausgeschlossen worden. "Der SCC hat ein sehr problematisches Verhältnis zu seiner Geschichte, die lassen uns nicht ins Archiv rein." Dabei werde Geschichtsaufarbeitung, wie sie der Deutsche Fußball-Bund und einige Fußballbundesligisten seit einiger Zeit betreiben würden, immer mit einem positiven Medienecho belohnt. "Selbst wenn der Club tiefbraun war", so Bahro.

Nicht einfach sei es auch, aussagekräftige Ausstellungsstücke aufzutreiben. "Kein Mensch hat damals ausgelatschte Sportschuhe oder ein Trikot aufbewahrt, nicht mal die Vereine selbst haben solche alten Devotionalien", bedauert Bahro. Doch durch den persönlichen Kontakt zu Martha Jacobs heute in den USA lebender Tochter können die Potsdamer immerhin einige originale Medaillen, Urkunden und Fotos aus dem privaten Nachlass der Speerwerferin zeigen. "Außerdem hatten wir im Jüdischen Museum die Möglichkeit, die Sammlung von Herbert Sonnenfeld zu sichten", erzählt Jutta Braun. Sonnenfeld dokumentierte als Pressefotograf zwischen 1933 und 1938 zahlreiche Sportveranstaltungen jüdischer Einrichtungen. "Wir planen einen aus verschiedenen Interviews zusammengesetzten Film", fährt Braun fort.

Als eine Quelle dient dabei das Videoarchiv von Steven Spielbergs Shoah Foundation. Zu dessen nahezu 52.000 Interviews mit Überlebenden und Zeugen des Völkermords an den Juden besitzt die Freie Universität seit zwei Jahren Zugang. Das FU-Institut für Judaistik hat mit einer Vorrecherche geholfen; Interviews mit Sportlern aus der Zeit der drei Protagonistinnen sollen deren Lebensgeschichten umrahmen.

Filmmaterial durchforstet auch der Studierende Thorsten Preisz für die Ausstellung. Im Bundesarchiv und in diversen Landesarchiven sucht er nach Wochenschauen, die Hinweise auf Henoch, Jacob und Bergmann enthalten könnten. "Meist folgten da Berichte über Sportfeste mit Leichtathletik nach Motorradrennen und Beiträgen über irgendwelche Märsche", erzählt der Sportwissenschaftsstudent.

Dass die Ausstellung ein Erfolg wird, glaubt er genauso wie Jutta Braun und Berno Bahro. Letztere beiden waren bereits an der Ausstellung "Doppelpässe - Wie die Deutschen die Mauer umspielten" beteiligt. Die war im Fußballweltmeisterschaftssommer 2006 im Prenzlauer-Berg-Museum zu sehen und beschäftigte sich mit durch den Fußball zustande gekommenen Ost-West-Kontakten während der Teilung. "Damals haben wir gemerkt, wie sehr Sportgeschichte die Öffentlichkeit anspricht", erinnert sich Braun an das Projekt, aus dem eine bis heute durch das Land ziehende Wanderausstellung geworden ist.

Ob das Weltmeisterschaftsfieber in diesem August ähnlich grassiert wie 2006, muss erst noch abgewartet werden. "Die Ausstellung jedenfalls wird mindestens so spannend wie damals", verspricht Braun.

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