Bildung: Eine Schule für Quereinsteiger sucht Querdenker

Die Freie Schule in Kreuzberg will sich vergrößern: Im Herbst soll sie zur Oberschule erweitert werden.

Nicht nurPflichtfächer stehen auf dem Stundenplan Bild: AP

In Melissas Schule haben auch die Hunde Lehrer. Es gibt eine Bibliothek und vier Stunden Sport die Woche. Bei Edgar wächst in der Schule Regenwald, und bei Juri haben die Schüler jeden Tag Physik und Chemie. "Ich lese ein Gedicht vor", sagt die nächste in der Runde. "Warte", kommt es von der anderen Seite des Tisches, "ich muss erst scharfstellen." Rebekka dreht an der Digitalkamera. "Und … Klappe!"

Es ist Mittwoch, später Vormittag, und acht Kinder der oberen Stufe der Freien Schule Kreuzberg lesen ihre Hausaufgaben vor. "Traumschulen" heißt das Thema. Traumschulen war auch der Titel des Films, der wenige Tage zuvor im Eiszeit-Kino in der Kreuzberger Zeughofstraße Premiere hatte. Die ganze Schule hat ihn sich gemeinsam angeschaut, jetzt wird darüber diskutiert und die Diskussion gefilmt. "Film als Unterrichtsfach" heißt das Wahlfach, das die Schule zusammen mit dem Eiszeit-Kino durchführt. Nur eine Wand trennt schließlich die beiden Institutionen voneinander.

Vor gut eineinhalb Jahren hat die Schule ihre Arbeit aufgenommen, sie ist nach der Waldorfschule die zweite private Schule in Kreuzberg. In der ersten Zeit haben die Kinder vor allem Wände niedergerissen und neue aufgebaut, Schubladenschränke für den Gruppenraum gezimmert, die Wände des Büros mit Graffiti besprüht.

Nun ist die Baustellen-Phase der ersten Zeit vorüber, doch im Aufbau ist die Schule immer noch. Nicht nur, weil materiell wie personell die Ausstattung noch nicht optimal ist, weil immer noch viel improvisiert werden muss, wie Martina Hoffmann, Diplom-Pädagogin und Gründerin der Schule, sagt. Ab Oktober soll die Grundschule jetzt noch um eine Oberschule erweitert werden und nicht mehr bis zur sechsten, sondern bis zur zehnten Klasse gehen. Das war von Anfang an das Konzept der Schule.

Hier heißen die Lehrerinnen, die in der Freien Schule arbeiten, nicht Lehrerinnen, sondern Begleiterinnen. Martina Hoffmann ist eine von ihnen, und die Geschichte der Freien Schule Kreuzberg ist zu einem großen Teil auch die ihre. Hoffmann ist in Berlin aufgewachsen, die ganzen wilden 1980er-Jahre hat sie mitgemacht, im Motorrad-Kollektiv gearbeitet, Häuser renoviert, sich das Berlinern wieder angewöhnt, das ihr einst als "Sprache der Gosse" ausgetrieben worden war.

Sie habe sich selbst nie wohl gefühlt in der Schule, erzählt Hoffmann. Immer habe sie das Gefühl gehabt, dass man dort nicht die Sachen lernt, die wichtig sind. Mit der abstrakten Mathematik zum Beispiel habe sie sich gequält. Als sie später eine Ausbildung zur Kfz-Mechanikerin machte und in der Berufsschule wieder Matheunterricht hatte, sei ihr alles aufgegangen: Mathe war einfach, machte Spaß - "weil es auf einmal einen praktischen Bezug hatte". Zuletzt arbeitete Hoffmann bei "Stadt als Schule", einem Projekt für jugendliche Schulabbrecher.

Die Idee zu einer freien Schule in Kreuzberg entstand, als Hoffmanns eigener Sohn ins schulfähige Alter kam. 2000 war das, und zu Beginn waren die Initiatoren zu fünft. Aber die Gründung einer Schule war aufwendiger und langwieriger als gedacht. Die anderen Eltern sprangen ab, zogen mit ihren Schulanfängern aus Kreuzberg weg. Hoffmanns Sohn ging auf eine staatliche Grundschule. Sie machte dennoch einen zweiten Anlauf, Freunde unterstützen sie, die Freie Schule in Prenzlauer Berg übernahm die Trägerschaft - dieses Mal mit Erfolg.

27 Kinder besuchen die Schule inzwischen. Sie arbeiten in zwei Gruppen, Noten gibt es keine und auch keine starren 45-Minuten-Blöcke für den Unterricht, dafür regelmäßig Freiarbeit. Viele der Aspekte des Konzepts, die noch vor wenigen Jahren als "alternativ" verschrien waren, werden inzwischen auch an staatlichen Grundschulen erprobt: Gruppenarbeit etwa oder der jahrgangsübergreifende Klassenverband. Den Hauptunterschied zu staatlichen Schulen sieht Hoffmann denn auch in den kleinen Gruppen und im starken Praxisbezug: "Wir nutzen die Werkstatt, wann immer Bedarf besteht."

Neben den Pflichtfächern können die Schüler Selbstverteidigung und Konfliktbewältigung, Kochen oder Massage als Fächer wählen, vor kurzem haben Schüler eine Zirkusgruppe gegründet, es gibt eine Mädchenband. "Und die Kinder können sich ihre Themen wirklich frei wählen, sie entscheiden ganz allein, wozu sie etwas schreiben, einen Vortrag halten wollen", sagt Hoffmann.

Probleme, Schüler zu finden, hat die Schule keine: "Das Interesse ist riesig", so die überzeugte Lehrerin. "Allein im letzten Oktober gab es für die erste Klasse über 70 Voranmeldungen." Dabei gibt es nur wenige Plätze für Schulanfänger. Die eigentliche Zielgruppe seien ältere Kinder, vor allem solche, die mit dem Regelschulsystem nicht klarkommen und in der Freien Schule nochmal einsteigen können. "Quereinstieg Kreuzberg SO36" soll die geplante Oberschule heißen, um diesen Aspekt zu verdeutlichen. Auch Kinder mit migrantischem Hintergrund sollen gezielt angesprochen werden, eine der BegleiterInnen hat eine Zusatzausbildung für Deutsch als Fremdsprache. Das klappt mehr oder weniger gut: Von den Schülern kommen einige aus Portugal, Spanien, Irland, Tschechien. Türken und Araber, von denen viel mehr in Kreuzberg leben, gab es dagegen wenige bisher. Aber seit kurzem, erzählt Hoffmann, besuchten auch zwei türkische Mädchen die Schule. Ganz begeistert seien sie, beteuert sie. Und das spreche sich dann ja schnell in der Community herum.

Auch Cordula Putzkis Sohn Noah ist als Quereinsteiger an die Freie Schule gekommen, vor einem Jahr. Zuvor ging der Achtjährige auf eine staatliche Grundschule in der Nähe. "Er hatte dort große Probleme", sagt Putzki. Noah sei überfordert gewesen als einer von zwei Deutschen in der Klasse, von der ganzen Situation an der Schule, der Gewalt. In der Freien Schule sei er jetzt viel zufriedener, er gehe gerne zur Schule. "Aber hier herrscht natürlich noch ein ganz schönes Chaos, ist alles im Aufbau", sagt Putzki. "Da fehlt es manchmal ein bisschen an Verlässlichkeit." Das mache es derzeit auch schwierig, das Konzept der Schule wirklich umzusetzen. Dabei gefällt ihr sehr gut, "dass es hier noch ein bisschen Raum gibt für Selbstbestimmung, dass die Kinder ihre eigenen Projekte machen können". Und dass sie selbst als Elternteil viel mitarbeiten muss, nervt sie auch nicht. Sie findet das sogar "eigentlich ganz schön".

Ansonsten sei es allerdings schwierig, Eltern zu finden, die die nötige Zeit und Lust haben, sich am Aufbau der Schule zu beteiligen, sagt Schulgründerin Hoffmann. Das gelte für BegleiterInnen fast noch mehr. Und von Seiten der Behörden gebe es kaum Unterstützung, eher Widerstand. Das ärgert Hoffmann. "Schließlich hat doch nicht erst die Pisa-Studie gezeigt, welch einen Bedarf es an alternativen Schulkonzepten gibt. Und für einen Bezirk wie Kreuzberg gilt das noch viel mehr." Doch die Schwierigkeit sei, dass die Behörden vorschreiben, alle Pflichtstunden der Schule mit Lehramtsabsolventen abzudecken. "Die meisten tun sich nach einer klassischen Ausbildung zum Lehrer mit unserem Konzept schwer", so Hoffmann. Pädagogen oder Leute mit handwerklicher Ausbildung wären da oft besser geeignet, die könnten aber höchstens zusätzlich angestellt werden. Und schließlich brauche es auch eine gehörige Portion Engagement. "Nur mit dem Absolvieren von Schulstunden ist das ja nicht getan." Drei Begleiter arbeiten derzeit fest an der Schule, der Rest der Stunden wird über Honorarverträge abgedeckt, alle erhalten denselben Stundenlohn. Anders gehe es derzeit nicht, erklärt Hoffmann, der finanzielle Spielraum sei zu eng.

Immerhin zahlt die Schulbehörde, seit sie das Konzept genehmigt hat, auch den Betrieb der Schule. Aber mit den Zusatzangeboten und den kleinen Gruppen reicht das kaum. Den Aufbau haben zu einem großen Teil Eltern und Freunde mitgetragen, über Kleinstbürgschaften und mit Hilfe der gemeinnützigen GLS-Bank. Die Inneneinrichtung kam aus Spenden zusammen oder aus zweiter Hand. Gegen das Image einer Privatschule, die vor allem Kinder einer gut verdienenden Mittelschicht besuchen, hat sich die Freie Schule von Anfang an gewehrt. "Wir sind hier absolut kein elitäres Projekt, das sich nur leisten kann, wer Geld hat", sagt Hoffmann. Sie kramt die Liste mit den Schulbeiträgen raus, die je nach Einkommen der Eltern höher oder niedriger sind: "Hier zahlen doch fast alle nur den niedrigsten Beitrag von 80 Euro. Wir haben auch Eltern dabei, die leben von Hartz IV."

Mit der Erweiterung zur integrierten Gesamtschule ab dem kommenden Schuljahr wird die Finanzierung der Schule nicht einfacher werden: Anders als bei Grundschulen unterstützt die Schulbehörde den Betrieb der Oberschule erst nach drei Jahren, wenn nicht eine Partnerschule die Trägerschaft übernimmt. Auch manche der anderen Begleiter sehen die Erweiterung skeptisch, es gibt einige, die lieber weiter mit kleinen Kindern arbeiten wollen. "Wenn wir den mittleren Abschluss anbieten, sind das natürlich ganz andere Anforderungen, was das Niveau betrifft", so Hoffmann. Dann werde sich zeigen, wie man das pädagogische Konzept mit der Vorbereitung auf solch eine Prüfung zusammenbringt. Der Schul-Pionierin ist die Erweiterung dennoch wichtig: "Die Freie Schule ist ja auch entstanden, weil wir das bestehende Schulsystem ablehnen. Und das können wir nur aufbrechen, wenn die Kinder nicht nach der Grundschule doch auf Gymnasium, Haupt- oder Realschule gehen."

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