Drogen & Migranten: Im Rausch angekommen

Der Konsum von Drogen ist unter deutschtürkischen Jugendlichen die Ausnahme - noch. Denn überraschenderweise steigt der Hang zu Rauschmitteln wie Tilidin mit dem Grad der Integration.

Da zündet sich einer eine Crack-Pfeife an Bild: AP

Drogen hätten Cáglar Budakli beinahe das Leben gekostet. Es war keine Überdosis und es war auch keine Trunkenheit am Steuer. Sondern ein Dealer, der mit dem Hammer auf seinen Kopf einschlug, bis der Stiel brach. Fünfzehn Platzwunden, ein Schädelbruch, Gehirnblutungen und Koma waren die Folge. Der operierende Chirurg meinte, er habe Glück gehabt. Das war vor zwei Jahren. Tschalar, wie sein Name ausgesprochen wird, ist heute 26 und wohnt in Kreuzberg.

Prügel-, Amok- und Berserker-Droge - so wird die neueste Modedroge Tilidin gern bezeichnet. Das Schmerzmittel wirkt euphorisierend und angstlösend, macht aber gleichzeitig schnell abhängig. Polizei und Senat bezeichnen den Missbrauch von Tilidin als großes Problem. Gleichzeitig herrscht aber Unklarheit über die Verbreitung der Droge. Jetzt will Justizsenatorin Gisela von der Aue (SPD) Licht ins Dunkel bringen und Vertreter von Polizei, Innen- und Gesundheitsverwaltung an einen Tisch bitten.

Die Zahlen wirken alarmierend: Von 2.480 Rezeptfälschungen im vergangenen Jahr gingen laut der Justizverwaltung 95 Prozent auf das Konto von tilidinhaltigen Medikamenten. In der Jugendstrafanstalt Plötzensee schaffte es Tilidin sogar auf Platz zwei der konsumierten Drogen. Dennoch haben die Behörden noch kein klares Bild vom Missbrauch mit Tilidin, das, versetzt mit dem Zusatz Naxolon, als Schmerzmittel zu den Opioiden zählt und nicht als Heroinersatz konsumiert werden kann.

Polizeisprecher Frank Millert spricht von einem großen Dunkelfeld, was die Modedroge betrifft. Einzige Erkenntnis bisher: Für Festnahmen von tilidinkonsumierenden und gewalttätigen Jugendlichen seien meist mehrere Beamte notwendig. So aggressiv und renitent wären die unter Tilidin-Konsum stehenden jungen Leute zumeist.

Auch in der Justizverwaltung hat man noch kein klares Bild vom Ausmaß des Problems. "Wir wissen nicht, wie groß der Missbrauch wirklich ist", berichtet Sprecher Daniel Abbou. Was die Rezeptfälschungen für tilidinhaltige Medikamente betrifft, geht die Justizverwaltung jedoch von einer weit höheren Zahl als bisher bekannt aus. Viele Apotheker, sagt Abbou, bringen Rezeptfälschungen gar nicht mehr zur Anzeige, so groß sei mittlerweile der Missbrauch.

Um Klarheit zu schaffen, will sich die Justizsenatorin deshalb für mehr Tilidintests bei Festnahmen einsetzen. Sollte dabei ein steigender Tilidinmissbrauch nachgewiesen werden, würde sich die Senatorin dafür einsetzen, auch tilidinhaltige Medikamente dem Betäubungsmittelgesetz (BtMG) zu unterwerfen und so die Rezeptfälschung für Tilidin zu erschweren. So soll die Verbreitung eingeschränkt werden.

Repression hält Jürgen Schaffranek vom Streetworkerverein "Gangway" indes für den falschen Weg. Das Geld hierfür sollte besser in die Vorbeugung fließen. Tilidin dem BtMG zu unterstellen, würde das Problem nicht lösen. VON HANNES VOLLMUTH

Cáglar wollte den Dealer überzeugen, in seiner Straße wenigstens nicht mehr an die ganz Jungen, wie seinen 14-jährigen Bruder, zu verkaufen. "Ich hatte früher selbst mit Drogen zu tun", erzählt er, "und weiß, welche Folgen das hat. Andere müssen meine Fehler nicht wiederholen."

Die Fehler, die er meint: Mit 7 raucht er die erste Zigarette, mit 11 den ersten Joint, später kifft er von früh bis spät. Er dealt für "Taschengeld" in Parks und bricht mit 14 die Hauptschule ab, nachdem er von jeder in Kreuzberg geflogen ist. Im selben Jahr geht er für ein Raubdelikt ins Gefängnis, wird aber nachträglich freigesprochen. Mit 18 bekommt er zweieinhalb Jahre. Bei einer Massenschlägerei hatte er jemandem ein kaputtes Bierglas über die Augenpartie gezogen - bekifft und betrunken.

"Mein Leben war mir damals egal. Da war nur Wut und Frustration. Auch, weil es niemanden gab, mit dem ich reden konnte." Cáglars Vater war mehr auf Arbeit als zu Hause, die Mutter kümmerte sich um die kleinen Geschwister. "Auch den Lehrern war ich gleichgültig. Als sie unseren Jugendclub zugemacht haben, hing ich nur noch auf der Straße rum." Es blieben die Freunde und die Drogen. "Ich war ein Kessel ohne Ventil. Die Probleme habe ich immer weggeraucht."

Lässt man die extreme Gewalt weg, steht Cáglars Geschichte für viele, deren Name, wie seiner, in einem türkischen Pass und auf einer deutschen Geburtsurkunde steht. Denn was auf eine große Minderheit von Jugendlichen mit diesem Migrationshintergrund zutrifft, sind das Schulversagen und die Verlorenheit - und mittlerweile auch der Drogenkonsum. Wie der im schlimmsten Fall eine Biografie vergiften kann, zeigt Cáglars Geschichte.

In diesem Fall hat das Worst-Case-Scenario aber auch ein Happy End. Cáglar arbeitet und macht in seiner freien Zeit Rap-Musik. Und er erzählt seine Geschichte in Schulen und Jugendklubs, um über Drogen und Gewalt aufzuklären. Die Probleme, mit denen er vor zehn Jahren nicht umgehen konnte, seien bei den Jungen auch heute noch dieselben, sagt Cáglar. "Die haben das Gefühl, nicht gebraucht zu werden. Für Hartz IV, denken die, lohnt es sich nicht, einen Schulabschluss zu machen."

Und in der Tat, die Perspektiven für viele Jugendliche mit Migrationshintergrund sind düster. Laut Berliner Schulstatistik lag ihre Abbrecherquote 2006 bei 20 Prozent. Weitere 30 Prozent schließen mit der Hauptschule ab; die Hälfte wird also mit kaum vorhandenen Berufsaussichten erwachsen. Schon seit über zwei Jahrzehnten liegt die Arbeitslosenquote junger Migranten bei rund 40 Prozent. In migrantisch geprägten Stadtteilen wie Neukölln ist die Hoffnung nicht im gleichen Maß heimisch geworden wie ihre Bewohner.

Folgt dieser prekären sozialen Situation auch ein erhöhter Drogenkonsum? Wissenschaftlicher Konsens ist, dass die Verfügbarkeit von Drogen und der Einfluss der Freunde bei Jugendlichen eine entscheidende Rolle spielen. Aber wie sich Herkunft und soziale Lage auf den Drogenkonsum auswirken, ist bisher in Deutschland kaum untersucht. Studien darüber, ob der Konsum unter Migranten zu- oder abnimmt, gibt es nicht.

Eine aktuelle Umfrage der Hamburger Suchtprävention unter 14- bis 18-jährigen Schülern erlaubt erste Antworten. Festgestellt wurde, dass 17 von 100 Schülern mit türkisch-arabischem Migrationshintergrund regelmäßig Alkohol trinken und 7 Prozent Cannabis rauchen. Ihre Altersgenossen ohne Migrationshintergrund trinken doppelt so häufig, ihr Cannabiskonsum ist nur ungleich höher. Wenn man die soziale Lage einbezieht, liefert die Umfrage ein überraschendes Ergebnis: Mit dem sozialen Aufstieg der Eltern - man könnte auch sagen, der Integration - nimmt der Drogenkonsum junger Migranten erheblich zu. In besseren Wohngegenden trinken und kiffen circa dreimal so viele von ihnen wie in Problemvierteln. Bei deutschen Jugendlichen dagegen unterscheidet sich das Konsumverhalten in armen und reichen Vierteln kaum.

Einer, der die These vom Drogenkonsum als "Integrationserscheinung" in einer wissenschaftlichen Untersuchung untermauern will, ist der Psychotherapeut Riza Kavasoglu. Er betreut in Berlin seit 25 Jahren drogensüchtige Migranten. Allerdings macht er Integration nicht am sozialen Aufstieg fest. "Migranten", so sagt er, "verhalten sich einheimisch, wenn sie Drogen nehmen." Denn Drogenkonsum sei ein "spezifisches Ventil der hiesigen Gesellschaft", um mit Problemen fertig zu werden. "In der ehemaligen Heimat gibt es andere Auswege. Da zieht man ein halbes Jahr zu seinem Onkel, bis sich die Schwierigkeiten zum Beispiel mit den Eltern gelöst haben."

In den meisten Fällen, sagt er, seien es unbewusste und verdrängte familiäre Konflikte, die zum Konsum von Drogen führen. Die Strukturen im Herkunftsland fingen so etwas auf und böten Schutz, in der neuen Heimat gebe es diese oft nicht mehr. So würden alte Muster der Konfliktbewältigung durch neue abgelöst. "Wer Drogenkonsum nur mit der sozialen Situation erklären will, macht es sich zu einfach", sagt Kavasoglu.

Die so oft eingeforderte Integration der Einwanderer und ihrer Kinder im neuen Land schließt also ein, dass auch Negatives übernommen wird. Was aber ist, wenn man statt auf Integration auf die Desintegration blickt, auf die von der Gesellschaft Ausgeschlossenen? Hat das soziale Umfeld tatsächlich keinen Einfluss auf den Drogenkonsum? "Natürlich hat es das", sagt Hakan Aslan. "Aber zuerst ist entscheidend, wie lange die Leute schon hier leben." Aslan ist Sozialarbeiter und leitet den Jugendklub Wasserturm in Kreuzberg, wo Cáglar mit seinen Freunden Hiphop aufnimmt. "In meiner, der zweiten Generation der Einwanderer, wurden kaum Drogen konsumiert. Das ist heute anders", erzählt er. Er beobachtet, dass "die Straße" mit ihrer Subkultur für viele Jugendliche eine Art "Heimat" ist. Das, was Schule und Familie immer häufiger nicht mehr sind. Damit gingen auch Gewalt und Drogenkonsum einher.

Wie viel Panikpotenzial dieser Mix hat, ließen in den letzten Monaten die Schlagzeilen der Boulevardmedien ahnen. Junge Türken und Araber in Neukölln, so hieß es, würden angeblich Tilidin konsumieren - eine "Amokdroge" -, um sich auf Schlägereien einzustimmen. Das Medikament Tilidin ist ein verschreibungspflichtiges Schmerzmittel. Es gehört zur Gruppe der Opioide und kann psychisch und körperlich abhängig machen. "Die Medien haben das Thema in einigen Fällen unsachlich aufgebauscht und die Ursachen für den Konsum vereinfacht", erklärt Claudia Kienzler. Sie ist Leiterin der Suchtberatung Confamilia in Neukölln. Ungefähr ein Drittel derjenigen, die hierher kommen, haben einen Migrationshintergrund.

Ja, Tilidin sei ein unter jungen Muslimen verbreitetes Problem, sagt sie. Die sehen es als legales Medikament, das den religiösen Geboten nicht widerspricht. Und ja, die Zahl der Konsumenten scheint zu steigen - Kienzler schätzt sie in Berlin auf 500 bis 1.500. Eine genaue Zahl ist bisher nicht ermittelt. "Aber die jungen Leute konsumieren das nicht, um sich zu prügeln. Die Gründe für den Konsum sind vielfältig." Eindeutige Risikofaktoren für anhaltenden Drogenmissbrauch seien soziale Benachteiligung und die daraus resultierende Perspektivlosigkeit. "Drogen werden benutzt, um mit diesen Problemen fertig zu werden und sich besser zu fühlen", sagt Claudia Kienzler. Dabei wirkten sie verstärkend auf schon vorhandene Probleme wie Aggressivität, Kriminalität, Schulversagen und familiäre Konflikte. "Das ergibt einen Teufelskreis."

Und genau dieser Teufelskreis ist es, der Ursula Boos-Nünning, Professorin mit Schwerpunkt Migrationspädagogik an der Universität Duisburg-Essen, Sorgen macht. "Allein in bestimmten Stadtteilen zu leben, bedeutet bereits eine Benachteiligung, was die Bildungschancen und Berufsaussichten angeht. Wenn sich das über mehrere Generationen fortsetzt, verfestigen sich diese Strukturen."

Der Gedanke, zurückkehren zu können, habe die erste Generation der Einwanderer viel Frustration ertragen lassen. Das sei heute nicht mehr so. Dabei sei das Verhalten der Jugendlichen, vor allem was Gewalt und Drogen angeht, nicht so schlimm, wie es angesichts ihrer sozialen Situation zu vermuten wäre - noch nicht. "Es gibt schützende Faktoren. Das sind der Familialismus und die Religion. In unserer Gesellschaft werden diese Sachen kritisiert und mit der Zeit langsam zerstört", so Boos-Nünning. Dabei gebe es von Seiten der Politik keine Bereitschaft, den Jugendlichen einen "gleichwertigen Ersatz" zu bieten. "Die Probleme werden einfach verwaltet. Wenn es so weitergeht, kann sich die Situation nur verschlechtern."

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