Zahl der Verfahren steigt: Jobmotor Hartz IV - wenigstens bei Richtern

Die Zahl der Klagen gegen Hartz-IV-Bescheide hat im Juli ein neues Rekordhoch erreicht. Inzwischen arbeiten zehn Mal so viele Richter wie geplant die Aktenberge ab - und kommen dennoch nicht hinterher.

Verklagt: Die Jobcenter verlieren über die Hälfte der Prozesse. Bild: ap, Heribert Proepper

Das Berliner Sozialgericht hat aus der Not eine Grafik gemacht. "Hartz-IV-Kurve" heißt sie und ziert auch die Mitteilung mit den aktuellen Zahlen zu den Klagen in Sachen Hartz IV, die auf das Gericht einströmen. Alleine im Juli waren es 2.684 - so viele wie noch nie seit dem Inkrafttreten der Sozialreform im Januar 2005. Würde sich diese Entwicklung über den Rest des Jahres fortsetzen, gäbe es auf das gesamte Jahr gerechnet 17 Prozent mehr Verfahren als im vergangenen Jahr.

Als Ursache für den Anstieg sieht Michael Kanert, Sprecher des Sozialgerichts, eine ganze Reihe von Entwicklungen. "In den vergangenen Jahren ist immer mehr dazu gekommen. Zum Beispiel können mittlerweile auch Studenten einen Mietzuschuss erhalten", erklärt er.

Darüber hinaus würden die Jobcenter häufig etwas übersehen, Fristen würden versäumt. So war das 70.000. Verfahren im Juni eine Untätigkeitsklage. Das Jobcenter hatte nach drei Monaten noch keine Entscheidung über einen Widerspruch gefällt. Die Hartz-IV-Empfängerin bekam Recht.

So ging es der Mehrheit der Klagenden in diesem Jahr. Während 2008 die Erfolgsquote noch bei 48 Prozent lag, stieg sie laut Kanert für 2009 bislang auf 52 Prozent. Zum Vergleich: In anderen Rechtsbereichen hat durchschnittlich nur ein Drittel der Klagenden Erfolg. "Strukturprobleme", kommentiert Kanert die Zahlen. "Ein Geburtsfehler von Hartz IV ist es, dass man sich viel zu wenig Gedanken gemacht hat."

Dazu kämen Defizite in den Jobcentern, zeitliche Überforderung und Lücken im rechtlichen Wissen. "Wenn ein Sachbearbeiter die Frist nicht kennt, kann er sie auch nicht einhalten."

Laut Justiz-Sprecher Bernhard Schodrowski können zusätzliche Richterstellen nur bedingt helfen. Vor allem müsse dringend an den gesetzlichen Regelungen gearbeitet werden. "Die sind viel zu offen formuliert", kritisiert Schodrowski. Die Vorgaben seien so inkonkret, dass die die Klageflut erst ausgelöst hätten. Nun gelte es, aus einem "Teufelskreis" wieder heraus zu kommen. "Dafür müssen auf der einen Seite die Gesetze geändert werden, auf der anderen muss der Bestand an Verfahren abgebaut werden." Derzeit seien alleine in Berlin über 17.000 Hartz-IV-Verfahren in Bearbeitung.

Stefan Finkel, stellvertretender Chef des Berliner Landesverbandes vom Deutschen Richterbund sagt, dass zuletzt "eine ganz erhebliche Zahl neuer Kollegen eingestellt" wurde. Schodrowski beziffert den Anstieg auf 20 Richter im vergangenen und weitere 20, die in diesem Jahr dazu kommen. Jedoch betreffe die Aufstockung nur die Richterstellen. Für organisatorische Aufgaben etwa gibt es keine neuen Jobs.

Gerichtssprecher Kanert fordert nun politische Konsequenzen: "Wir brauchen Antworten aus der Politik, zum Beispiel auf die Frage, wie weit jemand umziehen muss." Ob die Kurve der Verfahren weiter nach oben geht, will er nicht einschätzen. "Ursprünglich waren 5,5 Richterstellen für die Hartz-IV-Fälle vorgesehen", erklärt er nur. Mittlerweile gebe es über 55. SVENJA BERGT

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