Debatte über Mindestlohn bei Landesaufträgen: Parlament handelt gesetzlos

Die Koalition hat ihr Mindestlohngesetz von der allgemeinen Pflicht zur Tariftreue befreit. Das Abgeordnetenhaus diskutiert darüber, ohne den Entwurf zu kennen.

Die rot-rote Koalition hat sich kurz vor der Bundestagswahl im Abgeordnetenhaus ein Wortgefecht mit der Opposition um das geplante Vergabegesetz geliefert. Empört waren die Abgeordneten von CDU, Grünen und FDP dabei am Donnerstag vor allem darüber, dass sie über ein Gesetz diskutieren sollten, das ihnen noch gar nicht vorlag. Die Koalition hatte das Thema mit ihrer Mehrheit auf die Tagesordnung des Abgeordnetenhauses gesetzt.

Stefan Liebich von der Linksfraktion sagte, Millionen Menschen in Deutschland würden nicht genug Geld verdienen, um davon leben zu können. Ein Mindestlohn würde "insbesondere Frauen von Armut und Abhängigkeit befreien", weil deren Einkommen oft besonders niedrig seien. Es sei zwar nur der "drittbeste Weg", einen Mindestlohn von 7,50 Euro brutto pro Stunde für öffentliche Aufträge vorzusehen, aber für einen bundes- oder landesweiten Mindestlohn für alle Arbeitnehmer würden die politischen und rechtlichen Voraussetzungen fehlen.

Der CDU-Wirtschaftspolitiker Heiko Melzer warf - genau wie Abgeordnete von Grünen und FDP - der Koalition vor, das Thema für den Wahlkampf hochzuziehen. "Das Parlament kann nicht über ein Gesetz diskutieren, das uns noch nicht vorliegt", sagte er. Außerdem kritisierte Melzer, dass die Koalition mit dem Gesetz vor allem das Mindestlohnziel verfolge und die Interessen des Mittelstands zu wenig berücksichtige.

Der Senat hatte den Gesetzentwurf am Dienstag besprochen. Er wird nun dem Rat der Bezirksbürgermeister vorgelegt, dann erneut vom Senat besprochen und schließlich dem Abgeordnetenhaus vorgelegt. Das Gesetz wird frühestens Ende dieses Jahres in Kraft treten.

Am 31. März 2008 hatte das Abgeordnetenhaus schon einmal ein Vergabegesetz beschlossen. Es sah nicht nur einen Mindestlohn von 7,50 Euro vor, sondern auch eine Verpflichtung zur Tariftreue: Die Unternehmen, die einen Auftrag vom Senat wollten, mussten ihre Arbeitnehmer nach Tarif bezahlen. Der Europäische Gerichtshof kippte wenige Tage später ein vergleichbares Gesetz aus Niedersachsen. Berlin setzte daraufhin sein Vergabegesetz in mehreren Teilen aus und prüfte die rechtlichen Möglichkeiten.

Im zweiten Anlauf verzichtet Berlin nun auf eine allgemeine Tariftreue. Außerdem hat der Bund inzwischen ein Gesetz zur Modernisierung des Vergaberechts beschlossen, das die Berücksichtigung sozialer Kriterien ausdrücklich erlaubt. Berlin beschränkt sich auf den Mindestlohn von 7,50 Euro. Die Tariftreue wird lediglich noch dort verlangt, wo ein Tarifvertrag ohnehin vom Bund per Gesetz für verbindlich erklärt wurde. Der Senat hofft, dass das Vergabegesetz in dieser Form jetzt vereinbar mit dem Bundes- und Europarecht ist.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.