einwanderungsstudie
: „Niemand ist gern ungebildet“

taz: Frau Radziwill, welche Erkenntnisse bietet die neue Einwanderungsstudie „Ungenutzte Potenziale“?

Ülker Radziwill: Ich finde es immer wieder gut, wenn Studien den Integrationsgrad in einem Einwanderungsland prüfen.

Papier ist geduldig. Resultiert auch etwas daraus?

Die neue Studie ist eine Momentaufnahme. Sie vergleicht verschiedene Regionen auf der Basis von Statistiken aus dem Jahr 2005. Dabei wird deutlich: Wo der Arbeitsmarkt stabil ist, funktioniert Integration besser. Wer Arbeit hat, bringt eine größere Bereitschaft mit, an der Gesellschaft teilzuhaben und sich einzubringen. Die Studie belegt noch etwas Zweites.

Was?

Dass die Gastarbeiter aus der Türkei die Wendeverlierer sind. Vor allem in Berlin. Vor dem Mauerfall gab es hier 400.000 Industriearbeitsplätze. Heute sind es 95.000. Viele dieser Industriearbeitsplätze wurden von Gastarbeitern mit minimaler Berufsqualifikation besetzt. Einen ähnlich dramatischen Abbau von Arbeitsplätzen nach der Wende gab es in Frankfurt etwa nicht.

Aus der Studie geht auch hervor, dass die Migrantengemeinde in Berlin gespalten ist in eine sehr gut gebildete und eine sehr schlecht gebildete Gruppe. Haben Sie dafür Erklärungen?

Menschen wandern aus unterschiedlichen Gründen aus. Sie können politischer oder wirtschaftlicher Natur sein. Politische Flüchtlinge sind oft gut gebildet. Berlin ist interessant für gut gebildete Menschen. Aber wie gesagt: Nach Berlin kamen auch viele Arbeitsmigranten aus unteren sozialen Schichten.

Ungelernte Arbeitskräfte aus Anatolien – meinen Sie die?

Ja. Aber es ist immer schwierig, eine Gruppe zu benennen. Niemand ist gern ungebildet. Viele dieser anatolischen Arbeitskräfte wollen für ihre Kinder eine gute Bildung. Das deutsche Bildungssystem setzt bei der Bildung der Kinder aber die Mitarbeit der Eltern voraus – bei Hausaufgaben etwa. Das können die migrantischen Eltern nicht leisten. Darauf hat das Bildungssystem kaum Rücksicht genommen.

Ist das türkischstämmige Bildungsproletariat in Berlin demnach hausgemacht?

Auf jeden Fall. Das Bildungssystem in einem Einwanderungsland muss die Eltern da abholen, wo sie stehen. Ein schwerer Fehler war es zudem, als nach der Wende viele Lehrer aus dem Osten in Westbezirke versetzt wurden, ohne sie im Umgang mit Migrantenkindern zu qualifizieren.

Die Erkenntnis ist ja nicht neu, dass Deutschland viel zu lange keine Verantwortung für die Integration übernahm. Wie kommt man jetzt weiter?

Es muss endlich eine Bildungsoffensive in Berlin für die erwachsenen MigrantInnen geben. Fort- und Weiterbildung müssen Vorrang haben, um Leute wieder in Arbeit zu kriegen. Wenn man sich gebraucht und geschätzt fühlt, ist Partizipation leichter. Aussiedler wurden bei ihrer Integration begleitet, Leute aus der Türkei blieben sich selbst überlassen.

INTERVIEW: WALTRAUD SCHWAB

Ülker Radziwill, 42, ist sozialpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus und seit 35 Jahren Berlinerin