Lesezirkel 2.0
: Endlich wieder mal ein Buch!

Im Neuköllner Café Ori ist es sehr ruhig. Stühle, Sessel und Sofas sind zu einer kleinen Runde zusammengeschoben worden. Auf und in den Polstern sitzen in Bücher versunkene Menschen, haben einen Finger an den Mund gelegt, wippen mit dem Fuß, manchmal lächelt einer, ab und an flüstert jemand. Im Hintergrund läuft leise Musik, das Licht ist gedämmt, die Pupillen der Anwesenden flitzen von links nach rechts und wieder zurück, manchmal klirren Bierflaschen aus Versehen aneinander, weil die Besitzer nicht aufgepasst haben. Dann schauen sie für einen Moment auf und werfen einen kurzen Blick in die Runde.

Was aussieht wie ein still schweigender Lesekreis, ist der Versuch eines internetaffinen Projektmanagers, sich selbst und andere mal wieder zum bewussten Lesen von Büchern zu animieren. Sebastian Sooth, sonst eigentlich den ganzen Tag beruflich und privat im Internet unterwegs, wollte mal wieder ein paar Bücher zu Ende lesen „und das nicht ganz einsam und alleine tun“. Eine inspirierende Atmosphäre und die Möglichkeit, sich auszutauschen über das, was man gerade gelesen hat, seien weitere Gründe gewesen, aus dem fixen Wunsch, mal wieder ein Buch zu lesen, eine Art Co-Reading-Event zu machen. Und so telefonierte der 30-Jährige mit den Besitzern des Ori, verschickte per Microblogging-Dienst Twitter und die Social Community Facebook ein paar Einladungen an Freunde – und schon traf man sich am Mittwochabend zum ersten Mal.

Feste Regeln gab es hierbei nicht. Die meisten der 15 bis 20 Anwesenden lasen zwar Bücher, aber auch eine Zeitung, ein Pop-up-Book und ein Laptop waren auf dem Tisch in der Mitte und den Schößen zu finden – Lesegewohnheiten sind ja genauso verschieden wie Geschmäcker.

Aus dieser uraufgeführten Idee des gemeinsamen Lesens soll eine monatliche Veranstaltung werden. Sooth ist mit Buchhandlungen im Gespräch, denn schließlich solle nicht jeder dasselbe lesen: „Jeder liest, was er will – und durch das Reden darüber in den Raucherpausen oder dadurch, dass man nebeneinander sitzt, entstehen neue Gedanken und Gesprächsfäden. Ich will das Soziale der Social Networks mal wieder im echten Leben haben und nicht immer nur über Internetthemen plaudern.“

Das Konzept könnte aufgehen. Zwar wird sich erst langsam beschnuppert, viele kennen einander dann doch nicht oder nur durchs Netz. Dennoch wollen die meisten wiederkommen, „aber mit mehr Auswahl an Büchern“. Langfristig wünschenswert, so Sooth, seien zudem Tische mit Leselampen; eine Kooperation mit einer Buchhandlung sei ebenfalls ein guter Anfang, „damit man in Bücher, die andere schon gelesen haben, in Ruhe reinschnuppern und eventuell auch gleich mitnehmen kann. Empfehlungen von Menschen, die man mag, sind ja nicht zu unterschätzen, sei es ein Link im Internet oder eben ein Buch.“

An diesem Abend sind alle Altersklassen anwesend – ganz ohne Handy oder Internet kommt die Netzgesellschaft dann aber doch nicht aus. Der unter dem Twitternamen mspro bekannte Michael Seemann verteidigt sich, als Sooth ihn auf sein hinter dem Buch verstecktes Telefon anspricht: „Ich habe jetzt eine halbe Stunde nicht draufgeguckt. Das finde ich total okay“, sagt er und steckt es dann wieder in die Jackentasche.

Draußen ist es mittlerweile stockfinster, jemand bleibt vor dem Schaufenster des Cafés stehen und macht ein Handyfoto von der illustren Runde. Seine Begleitung bleibt nicht stehen, sondern geht schon weiter, als er ruft: „Guck mal, die lesen ja alle.“ LISA RANK