Die feinen Unterschiede

Von Alltag und Fantasien einer multikulturellen Gesellschaft erzählen die Filme „Die Klasse“ und „Couscous mit Fisch“. Gezeigt werden sie im Rahmen der Französischen Filmwoche, die heute im Cinéma Paris und im Filmtheater am Friedrichshain beginnt

Die Kamera schaut tief hinein in die Mundhöhle – selbst dann noch, wenn die Hirse unansehnlich am Gaumen klebt

VON CRISTINA NORD

Frankreich ist ein Einwanderungsland, und das französische Kino beweist viel Geschick, wenn es gilt, den Alltag und die Fantasien einer multikulturellen Gesellschaft in Szene zu setzen – mehr Geschick als das deutsche Kino, das sich kaum noch um den Gegenstand bemüht, seit es ihn an Fatih Akin delegiert hat. Die Französische Filmwoche, die heute im Cinéma Paris und im Filmtheater am Friedrichshain beginnt, legt von dieser besonderen Gabe mit zwei Filmen Zeugnis ab: mit Laurent Cantets „Entre les murs“ („Die Klasse“) und mit Abdellatif Kechiches „La graine et le mulet“ („Couscous mit Fisch“). Jener gewann im Mai die Goldene Plame in Cannes, dieser im September in Venedig den Spezialpreis der Jury.

Kechiche kam 1960 in Tunesien zur Welt; als er drei Jahre alt war, zog seine Familie mit ihm nach Nizza. Gerade volljährig, begann er als Schauspieler am Theater zu arbeiten. Seit acht Jahren dreht er Filme, zum Beispiel den mit vier Césars ausgezeichneten „L’esquive“ (frei übersetzt: „Das Ausweichmanöver“), der einer Schulklasse in der Banlieue dabei zusieht, wie sie ein Stück von Marivaux einstudiert. Der Text aus dem 18. Jahrhundert und das Geschehen unter den jugendlichen Protagonisten gehen dabei eine glückliche Symbiose ein; der Umweg über die Literatur, über die fremde, altmodische Sprache ermöglicht es den Schülern, ihre Vorstadtmisere zumindest in ihrer Vorstellungswelt zu überwinden. Klassische Bildung dient, so die ungetrübte Hoffnung von „L’esquive“, dem besseren Verständnis seiner selbst und damit auch der besseren Teilhabe an der Gesellschaft.

„Couscous mit Fisch“ fällt nüchterner aus. Der Werftarbeiter Beiji Slimane (Habib Boufares) ist im Begriff, seine Stelle zu verlieren. Er lebt in der südfranzösischen Hafenstadt Sète, ist 61 Jahre alt, doch statt zu resignieren, will er ein Restaurant für nordafrikanische Spezialitäten eröffnen. Kechiches Film nimmt sich lange Zeit die Freiheit, der großen, verzweigten, zerstrittenen Familie Slimanes einfach nur zuzuschauen – beim Essen, bei der Arbeit, beim Reden und Schreien, und das hat dank der wendigen Kamera (Lubomir Bakschew) viel Anmut. Großartig etwa ist eine Sequenz, in der sich alle bis auf Slimane selbst in einer engen Hochhauswohnung versammeln, um das Sonntagsmahl einzunehmen. Auf dem Tisch stehen ein großer Topf Couscous, Gemüse, gebratene Fischhälften, eingelegte Pfefferschoten. Alle reden auf Französisch und durcheinander, heftig diskutiert wird die Frage, wann überhaupt man noch Arabisch spricht: wenn man miteinander schläft oder einen Wutausbruch hat. Die Kamera heftet sich an die Münder der Figuren, sie nähert sich in Close-ups den Fingern, den Tellern und den Speisen. Sie ist agil, fast fahrig und schaut noch dann tief hinein in die Mundhöhle, wenn die Hirse unansehnlich am Gaumen klebt.

Nach einer Weile scheint dieses absichtslose, freie Zuschauen dem Regisseur nicht mehr zu reichen, und er versteift sich auf einen richtigen Plot. Intensive Szenen gibt es auch jetzt noch, nur sind diese merklich dem Fortgang der Handlung untergeordnet, und der hat einiges von Milieustudie und Multikultikomödie. Bittere Noten sind trotzdem noch wahrnehmbar. Wenn Kechiche seinen Helden am Abend der Restauranteröffnung verzweifelt durch die Hochhaussiedlung irren lässt, gibt er seinem Film die Offenheit zurück, die er mit Bauchtanz und Familiensinn zu verspielen drohte.

Was Kechiche mit „L’esquive“ begann, setzt Laurent Cantets „Die Klasse“ mit leicht verändertem Vorzeichen fort. Die Verschiebung liegt darin, wie sich die Filme zum Ideal republikanischer Bildung verhalten. „L’esquive“ verpflichtet sich dem entsprechenden Kanon und der Institution Schule, während „Die Klasse“ subtile Zweifel spürbar werden lässt. Der Film verwebt das Dokumentarische und das Fiktionale; gedreht hat Cantet mit 14, 15 Jahre alten Laien, Schauplatz ist eine Schule im 20. Arrondissement von Paris. Die meisten Schüler haben Eltern, die nicht in Frankreich geboren wurden, manche sprechen nicht besonders gut Französisch. Der Klassenlehrer wird von François Bégaudeau gespielt, einem ehemaligen Lehrer. Bégaudeau hat mehrere Bücher geschrieben, darunter einen Erfahrungsbericht aus seiner Zeit an der Schule, und er hat am Drehbuch zu „Die Klasse“ mitgearbeitet.

Cantets Film lebt davon, dass man dem Unterricht wie einem Sparring folgen kann. Der Lehrer nimmt seine Schüler ernst genug, um wieder und wieder mit ihnen zu ringen. Er lässt sich ihre Trägheit und ihre Verweigerung nicht bieten. Die Schüler wiederum reiben sich an dieser Haltung, geben Widerworte und lassen sich auf Rededuelle ein, bei denen unterschiedliche Formen des Sprechens – umgangssprachlich und förmlich, Patois und Hochfranzösisch – miteinander wetteifern. Immer wieder stellen sie infrage, warum sie etwas lernen sollen, solange es ihnen in ihrem Alltag nichts nützt. Wozu braucht man die Verbformen des Imperfekts im Subjonctif, wenn ohnehin niemand mehr so spricht? Um alle Register der Sprache zu beherrschen, kontert der Lehrer. Die Frage, warum sich am Subjonctif-Imperfekt feine Unterschiede und damit gesellschaftliche Hierarchien manifestieren, kann auch er nicht aus der Welt schaffen.

Das Programm findet sich unter www.franzoesische-filmwoche.de