Zeitreisende und Hoffeger

ROLLENTAUSCH In der Produktion „Missing Link“, die das Theater Thikwa zusammen mit Matthaei & Konsorten zeigt, wird der Zuschauer analysiert

Es beginnt mit großer Verlangsamung, fast wie in einem der Wartesäle, die der Regisseur Christoph Marthaler und seine Bühnenbildnerin Anna Viebrock so gerne einrichten. Nur dass diesmal der beinahe leere Saal, in den die Zuschauer in kleinen Gruppen geführt werden, ein Fundstück ist und original so existiert in einer alten Sozialeinrichtung in Berlin. Langsam, geradezu erstaunlich entschleunigt im Verhältnis zum Takt des Alltags, nähern sich die Darsteller des Thikwa-Ensembles den Besuchergruppen, die von geheimen Treffpunkten aus hierher gebracht wurden. Sie zupfen an der Kleidung der Zuschauer, vermessen mit Schnur deren Körpergröße, dirigieren sie hierhin und dorthin, und ziemlich bald ist klar: Ein runder Abend wird das nur, wenn wir, die Zuschauer, die Rollen annehmen, die uns zugedacht sind.

Ich gehöre zur Gruppe der „Riesen-Algetten“, die zuerst in das Labor für Zeitreisende geführt wird. Mittels eines halben Besenstiels stellen wir Kontakt zu einem Energiefeld aus gespannten Seilen her und hüpfen auf der Stelle, bis der Absprung ins Jahr 1974 geschafft ist. Marokko ist das Ziel, fest verankert in den Erinnerungen einer Mitreisenden und jetzt von allen angesteuert.

Auf anderen Stationen in diesem „geheimen Forschungslabor“ werden wir in Bewerbungsgespräche verwickelt, zum Hoffegen geschickt, untersucht, analysiert und mit erstaunlichen Befunden konfrontiert: „Bettina, du hast eine Mehlwurmallergie“, igitt. Die Gerätschaften, die überall herumliegen, zum Bürstenziehen, Körbeflechten, Stühlereparieren, verwandeln sich dabei wie von selbst in die notwendigen Requisiten.

„Missing Link“ heißt die neue Produktion des Thikwa-Ensembles und die geteilte Vorstellungskraft bietet sich an, als das erste Verbindungselement zwischen den Zuschauern und den von Behinderungen gehandicapten Darstellern erkannt zu werden. Seit 1990 arbeitet das Thikwa-Ensemble und hat seitdem über 20 Stücke mit verschiedenen Regisseuren inszeniert. Das Konzept von „Missing Link“ stammt von Jörg Lukas Matthaei, der unter dem Label matthaei & konsorten gerne soziale Biotope aufgreift. Sein dokumentarischer Zugriff bekommt den Thikwa-Darstellern gut: Ihre Rollen in „Missing Link“ sind gesättigt von der eigenen Erfahrung, das Objekt der Untersuchung und der sanften, pädagogischen Regieanweisung zu sein. Wie sie das nun weitergeben, ist von großem Charme.

Die große Schamanin hilft

„Missing Link“ aber besteht nicht nur aus improvisiertem Spiel, sondern auch aus vorbereiteten Texten. Zettel, Spielkarten, Heftchen werden großzügig verteilt, die die Geschichte von der geheim gehaltenen Forschungsstation fortspinnen und die Einbildungskraft verschwörungstechnisch befeuern. Da liest man zum Beispiel, dass im Januar 2005 zum Verhältnis von Schauspielern und Hunden geforscht wurde und im November 2008 eine Methode zur Biografieüberwindung entwickelt wurde. Ernster und näher dran am Thikwa-Ensemble aber sind zwei Hörstationen mit kurzen Passagen über das Verliebtsein und das Sterben. Da kommen die Stimmen einem umso näher, je verrückter ihr Text erscheint: Er warte auf die große Schamanin, die ihn hinüberbringe in das Land, wo „sie“ ist, die große Blitze schleudern konnte, erzählt eine männliche Stimme.

Dieses Abtasten von existenziellen Erfahrungen, diese sehr intimen Bekenntnisse kommen nicht unbedingt zusammen mit den fiktionalen Elementen von „Missing Link“. Sie scheinen dem Bewusstsein geschuldet, dass in dieser doch sehr verspielten Theaterinstallation noch etwas Wesentliches fehlt; ein „Missing Link“, das die wahren Probleme im Leben der Darsteller aufschließt. Das bleibt etwas gewollt. Genauso wie die Geheimhaltung des Spielortes, derentwegen man sich nur telefonisch zum Besuch dieser freundlich konspirativen Vorstellung anmelden kann.

KATRIN BETTINA MÜLLER

■ „Missing Link“, 22.–26. Juli, 29.–31. Juli, 19.30 Uhr. Nur mit telefonischer Reservierung: 6 95 05 09 24