Die Liebeskrankheit und andere Behinderungen

DISABILITY ARTS Das Festival No Limits zeigt grenz- und spartenübergreifende Inszenierungen aus zwölf Ländern. Einen Schwerpunkt am kommenden Wochenende bilden die Shows des Politaktivisten Mat Fraser

Frazer will zum Nachdenken zwingen, weshalb und wovon man sich abgestoßen oder auch angezogen fühlt

Mit der Post kommen wieder nur miese Nachrichten. Die Miete wird erhöht, das Arbeitsamt meldet sich, und als wäre das nicht genug, schreibt ein namenloser „Er“, dass er eine andere heiratet. In kleinen Wutanfällen landen die Briefe in der Ecke. Viel zerknülltes weißes Papier bedeckt bereits den Boden. Eine stilisierte Schneelandschaft, in der die Wetter- und Stimmungslagen schwanken.

Assoziativ bebildert ist diese „Winterreise“, die jüngste Produktion der Berliner Behindertentheatergruppe RambaZamba frei nach Schuberts Liederzyklus. Schneeflocken verwandeln sich in Briefe und dann in Schneebälle. Papierbahnen wickeln sich zu griechischen Gewändern. Der einsame Schubert’sche Liebeskranke fehlt natürlich nicht. Joachim Neumann, Sänger-Protagonist der Gruppe, singt die ich-gepeinigten Liedzeilen, während die Mitspieler diese Sehnsüchte in Spielszenen verwandeln, aber immer wieder auch ästhetisch unterwandern.

Konzertchic wird in dieser „Winterreise“ nicht zelebriert. Eher etwas verschroben, manchmal melancholisch, aber auch ironisch-trotzig verhält sich RambaZamba gegenüber der Romantik der vertonten Gedichte. „Wo zwei Mädchenaugen glühten, war’s um mich geschehen“, singt Neumann. Der Rest der Gruppe stopft sich das Papier zu Fatsuits unter die Kleidung, und ihre Sprüche wie „ich bin fett und glücklich“ funktionieren durchaus als Statement gegen die romantische Verklärung der Lieder. So leicht lassen wir uns nun auch nichts vormachen, spricht als Haltung aus diesem Abend, der im Rahmen von „No Limits“ in der Kulturbrauerei lief.

Abschied vom Perfekten

Das internationale Theaterfestival zeigt noch bis zum Wochenende sowohl Inszenierungen, in denen Behinderte und Nichtbehinderte zusammenarbeiten, als auch Arbeiten, in denen ihr Verhältnis das Thema ist. Festivalleiter Andreas Meder beschreibt die Fragestellung an das Programm des Festivals, das in diesem Jahr zum vierten Mal stattfindet: „Was ist normal, was ist anders, und wie verhält man sich dazu“. Performer wie Anne Tismer oder Herbert Fritsch, die mit dabei sind, haben sich vom Ideal des Perfekten längst verabschiedet; ihre Arbeiten bewegen sich thematisch in Grenzbereichen der Existenz. Neville Tranters herausragendes Stuffed Puppet Theatre gastiert heute und morgen in der Kulturbrauerei mit der Geschichte eines Menschen, der glaubt, ein Hase zu sein.

Dass eine Behinderung einerseits nicht weginszeniert werden kann, andererseits aber eigene Möglichkeiten zur Inszenierung bietet, treibt Mat Fraser, britischer Schauspieler mit einer Contergan-Schädigung, in seinen Shows auf die Spitze, während Gruppen wie RambaZamba oder Theater Thikwa sich völlig berechtigt im abgesichert-spielerischeren Rahmen bewegen. „Born Freak“ heißt ein Dokumentarfilm über Fraser, in dem er selbst danach forscht, wie er nicht als Freak, sondern als Schauspieler wahrgenommen werden kann.

Die Schöne und das Biest

Beim „No Limits“-Festival gastiert der Politaktivist mit zwei Abenden am kommenden Wochenende, darunter eine Variation auf „The Beauty and the Beast“, in der er mit der amerikanischen Burlesque-Tänzerin Julie Atlas Muz über weite Strecken des Abends nackt und in eindeutigen Posen auftritt. „Da sind nicht alle gerne dabei“, kommentiert Fraser selbst den Abend. Aber er will zum Nachdenken zwingen, weshalb und wovon man sich abgestoßen oder auch angezogen fühlt. Wobei es für ihn selbst beruhigender wäre, wenn seine Missbildung das Abschreckende wäre, „Sex sollte das heutzutage nicht mehr sein“.

Von seinen Arbeiten ist es ein weiter Bogen zu Anne Tismers Performances, zur Grundidee des Festivals passte ihr Abend dann aber doch. „Judith“ ist die Rekonstruktion eines Stücks, das sie in Togo mit sechzehn Tänzern und Performern erarbeitet hat. Es geht um Krieg. Im Ballhaus Ost ist die Handlung auf fünf Schauspieler reduziert und wird mit selbst gebastelten Requisiten im Art-Brut-Stil nacherzählt, teils kaum noch nachvollziehbar. Die verfremdeten übergroßen Pappgewehre und -macheten erzählen allerdings kindlich grausam vom Morden und von den Kriegsgräueln, die mit der Enthauptung des Holofernes gestoppt wird.

Einer der drei eingeladenen togolesischen Darsteller erhielt trotz persönlichen Bürgens von Tismer und trotz Fürsprache des Goethe-Instituts kein Visum für die Einreise nach Deutschland. Seine diskriminierende Behandlung sorgte dann auf dem Festival noch einmal für ganz eigenen Gesprächsstoff. SIMONE KAEMPF

■ „No Limits“ bis 25. 10., die Abende mit Mat Fraser laufen am 23. und 25. 10. in der Kulturbrauerei, komplettes Programm: www.no-limits-festival.de