Kevin lebte länger

Überraschung im Kevin-Prozess: Der Junge hat im Mai 2006 noch gelebt, so eine Zeugin. Ein Rechtsmediziner bestätigt den Obduktionsbericht – und zerstört so die Argumente der Verteidigung

von Christian Jakob

Im „Kevin“-Prozess erschütterte ein Rechtsmediziner am Donnerstag die Argumente der Verteidigung. Die Anwälte des Angeklagten hatten den Obduktionsbericht angezweifelt. Gestützt auf diesen Bericht wird Kevins Stiefvater, dem drogenabhängigen Bernd K., vorgeworfen, das Kleinkind getötet zu haben.

Der Hamburger Pathologe Jan Sperhake bestätigte jedoch in seiner Aussage weite Teile des Obduktionsberichts. Demnach starb das Kind letztlich an Herzversagen, hervorgerufen durch eine Lungenembolie. An Kevins Leiche waren 24 Knochenbrüche festgestellt worden. Durch die vielen Brüche trat Fett aus dem Knochenmark in die Blutbahn über, sagte Sperhake. Das Fett habe sich in der Lunge abgelagert. Dies erschwerte die Tätigkeit der rechten Herzkammer bis zu deren Stillstand. „Eine andere Todesursache ist nicht ersichtlich“, so Sperhake.

Ein Nierenversagen, über das die Verteidiger von K. zu Prozessbeginn spekuliert hatten, schloss der Rechtsmediziner aus. Zwar seien Kalziumablagerungen in Kevins Nieren entdeckt worden. Die Konzentration sei jedoch unkritisch gewesen.

Am 10. Oktober 2006 wurde Kevins Leiche von Polizisten tot im Kühlschrank seines Stiefvaters Bernd K. aufgefunden. Das Kind kam Anfang 2004 zur Welt. Knapp zwei Jahre später starb die drogenabhängige Mutter des Jungen. Seitdem befand er sich in der Obhut von Bernd K.

Die Staatsanwaltschaft wirft K. vor, den Jungen verprügelt und ihm dabei die Verletzungen zugefügt zu haben. K. hatte bei seiner Festnahme von einem Unfall gesprochen.

Sperhake wies dies zurück. „Bei Stürzen entstehen einfache Brüche, und nicht, wie hier, komplexe Bruchsysteme“, sagte er. Kevins Knochen waren „vor allem in den Wachstumszonen“ gebrochen. Dies sei „außerordentlich typisch für Misshandlungen“. Die Vermutung der Verteidigung, einige der Frakturen könnten entstanden sein, als K. das tote Kind in den Kühlschrank steckte, wies Sperhake ebenfalls zurück. „Es gibt ganz klare Zeichen dafür, dass die Brüche zu Lebzeiten entstanden sind“, sagte er. Zur möglichen Entlastung von K. wollten dessen Anwälte klären, ob Kevin an einer Knochenkrankheit wie Osteoporose gelitten haben könnte, die die Brüche begünstigt hätte. Sperhake schloss das aus: „Es gibt keine Hinweise, dass Kevin schlecht mineralisierte Knochen hatte.“

Zeugen hatten das Kind immer als besonders klein und leicht beschrieben. Laut Sperhake war dies eine direkte Folge der vielen Brüche. „Als Kevin geboren wurde, hatte er normale Körpermaße. Sein Entwicklungsrückstand begann erst im zweiten Lebensjahr.“

K. verfolgte Sperhakes Aussage ohne erkennbare Regung. Während der Verhandlung zog er seinen braunen Lederparka nicht aus, häufig las er in einem Schnellhefter. In einer Verhandlungspause ließ er sich von Justizbeamten hinausführen.

Vor Sperhake hörte das Gericht eine Bekannte von K. Diese gab an, K. mit dem Jungen noch zwischen dem 17. und 21. Mai gesehen zu haben. Bei dem Zusammentreffen auf einem Spielplatz in Hemelingen habe Kevin mit einem durch „zwei Äste vom Baum“ geschienten Bein im Kinderwagen gelegen. „Bernd hat gesagt, der Junge ist hingefallen und dass er mit ihm jetzt ins Krankenhaus will“, so die Zeugin. Bisher wurde davon ausgegangen, dass Kevin bereits im April 2006 gestorben sei. Damals hatte ein Sozialarbeiter das Kind zum letzten Mal gesehen. Der Rechtsmediziner Sperhake nannte den August 2006 als spätesten möglichen Todeszeitpunkt.

K.s Anwalt versuchte die Glaubwürdigkeit der Zeugin zu erschüttern, indem er auf Widersprüche zwischen ihrer Aussage und den Angaben, die sie bei der Polizei gemacht hatte, hinwies. Der Vorsitzende Richter Kellermann entgegnete hierauf, er könne nicht erkennen, dass sie „irgendetwas Wesentliches verschwiegen habe“.