Jugendamt wieder vor Gericht

Nach sechs Jahren gibt das Jugendamt unter dem Druck des Oberverwaltungs-Gerichtes auf: Im Jahre 2002 hatte es die Jugendhilfe für eine Schülerin gestrichen. Zu Unrecht, sagen die OVG-Richter

Von KLAUS WOLSCHNER

Kinder, deren Eltern von der Erziehung überfordert sind, kommen in Pflegefamilien und möglichst nicht ins Heim. Das ist die Politik des Bremer Jugendamtes, auch weil es billiger ist. Und weil es noch billiger ist, stellte das Jugendamt im Falle von Sabrina N. die Jugendhilfe ein – sie war gerade in der elften Klasse. In einem über sechs Jahre andauernden Rechtsstreit mit der Sozialbehörde hat Anwalt Matthias Westerholt nun durchgesetzt, dass diese Entscheidung als unangemessen und unsozial zurückgewiesen wurde.

Als Sabrina im Jahre 1987 zu den Pflegeeltern kam, war sie zweieinhalb Jahre alt, die Mutter war psychisch krank, zeitweise sogar entmündigt gewesen. Die Entscheidung, das Kind der Mutter wegzunehmen, sei damals also richtig gewesen, sagt der heutige Stadtteilleiter des Jugendamtes Vegesack, Michael Henker. Der einzige Fehler, könnte man hinzufügen, lag darin, dass diese Entscheidung nicht viel früher getroffen wurde. Denn die Mutter war nicht einmal in der Lage, ihren Alltag mit dem Kind zuverlässig zu organisieren, geschweige denn, dem Kind die lebensnotwendige Zuwendung zu geben.

Mit schweren Entwicklungsstörungen wurde das Kind also in die Pflegefamilie gegeben, die meisten haben lebenslänglich darunter zu leiden. Die Pflegeeltern kümmerten sich vorbildlich – und erfolgreich, darin sind sich alle einig. So erfolgreich, dass Sabrina aufs Gymnasium ging und mit 16 den Wunsch hatte, ein Jahr ins Ausland zu gehen. Jugendamtsleiter Henker versuchte, dies zu verhindern – es bedurfte eines persönlichen Eingreifens der damaligen Sozialsenatorin Hilde Adolf, um dem Kind das Jahr in einer Familie in Brasilien zu ermöglichen. Sabrina kam zurück in die elfte Klasse, wurde 18 Jahre alt – und bekam sozusagen als Geburtstagsgeschenk die Jugendhilfe gestrichen. Obwohl der Betreuer vom Fachdienst „Pflege in Bremen“ (PiB) gutachterlich erläutert hatte, dass die junge Frau die Zeit bis zum Abitur den emotionalen Rückhalt in der Familie dringend brauche und dass es insbesondere in der Abitur-Vorbereitung nicht zu verantworten sei, ihr zu erklären, sie müsse nun auf eigenen Füßen stehen.

Gegen die Ablehnung der Jugendhilfe legte Anwalt Westerhold „Widerspruch“ ein. Darauf passierte ein Jahr überhaupt nichts, das Jugendamt stellte sich tot. Am 9. 3. 2004 erhob der Anwalt Untätigkeitsklage. Im Juni 2004 machte Sabrina ihr Abitur – die Pflegeeltern hatten unter Verzicht auf eine Vergütung die Schülerin weiter betreut. In demselben Monat wies die senatorische Behörde den Widerspruch zurück. Begründung: Sabrina sei in Brasilien gewesen und hätte damit ihre Selbstständigkeit unter Beweis gestellt.

Im September 2005 kam es dann zur Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht. Das Urteil liest sich wie eine schallende Ohrfeige für das Jugendamt. Der Anspruch auf Hilfe beziehe sich nicht auf das Erreichen der Volljährigkeit, sondern auf die Persönlichkeitsentwicklung unter pädagogischen Gesichtspunkten, schrieb das Gericht.

Die senatorische Behörde akzeptierte das Urteil nicht, sondern ging in die Berufung. In der vergangenen Woche nun hat die mündliche Verhandlung stattgefunden – erst nach den eindeutigen Erklärungen der Oberverwaltungsrichter hat die Behörde ihre Berufung zurückgezogen.

Jugendamts-Stadtteilleiter Henker hatte für das OVG noch einmal ein 7-seitiges Papier angefertigt, um seine Entscheidung zu rechtfertigen. Daraus geht hervor, dass es keine „Hilfekonferenz“ mit den Fachleuten gegeben hatte, in der die Beendigung der Hilfe besprochen worden wäre. Der Stadtteilleiter hatte sich auch über die zuständige Case-Managerin hinweggesetzt. In seinem Schriftsatz bezieht er sich auf Lehrsätze aus dem Grundstudium der Sozialpädagogik, etwa dem, dass die „Persönlichkeitsentwicklung etwa mit dem 16. Lebensjahr im wesentlichen abgeschlossen ist“. Dass Persönlichkeitsprobleme im Erwachsenenalter fortdauern würden, sei normal. Er habe, formuliert Henker, „bisher nicht erlebt, dass ein junger Mensch trotz Förderung mit Hilfe zur Erziehung über die Volljährigkeit hinaus gänzlich die Schwierigkeiten“ – die zur Verlängerung der Hilfe Anlass gaben – „losgeworden ist“. Und: Man müsse „sinnlose Ausgabe von öffentlichen Mitteln“ vermeiden.