Das Zelt der tausend Stimmen

Klimacamp-Tagebuch I: Erst demonstrieren, dann diskutieren: Der Auftakt des Klimacamps verläuft freundlich und diskussionsintensiv. Unsere Korrespondentin hat sich umgeschaut und berichtet ab jetzt täglich in der taz

Erstmal ankommen, Machtkämpfe und Allianzen ausloten – und dann die beste Variante der Gruppendiskussion eruieren

„Die Demo ist zu Ende. Lasst uns jetzt alle gemeinsam in die S21 steigen und zur Elbgaustraße fahren. Von dort sind es noch etwa 20 Minuten zu Fuß.“ 20 ganz besondere Minuten: Es muss schon einen ganz außergewöhnlichen Anblick bieten, wie wir, ein bunter Demozug, so durch das Wohngebiet stapfen. Und „wir“, das sind vielleicht weniger, als man sich das den Ankündigungen zufolge vorgestellt hatte. Dafür zeigt sich hier ein Aspekt von Klima- und Antira-Camp, der sich hoffentlich als besondere Stärke der Bewegung erweisen wird: ihre Vielfalt.

Von kleinen, Fahnen schwenkenden Piraten in Kinderwagen und Flüchtlingsgruppen über grüne Jugend mit Pace-Flaggen über den Schultern bis zu schwarz eingehüllten Antifas und Wendländern reicht die Palette. Wer sich erinnerte, mochte sich schnell zurückversetzt fühlen nach Heiligendamm. Doch die Stimmung blieb entspannt, vielleicht gerade aufgrund dieser Vielfalt. Oder aber wegen der Beiträge der Hip-Hop Gruppe Seitensprung, die nicht jedermenschs Geschmack traf, aber dafür sorgte, dass sich so ziemlich die gesamte Demo erstmal auf dem Gänsemarkt niederließ.

Als wir das Camp erreichen, steigt uns der Duft von warmem Essen in die Nase, und alles reiht sich in die Schlange ein. Denn die Stadt weiß jetzt: Wir sind da. Ob es an der ungezwungenen Stimmung lag, oder an der Sonne an diesem Samstag: Die Passanten in der Hamburger Innenstadt zeigten sich interessiert und freundlich. Ein gutes Gefühl.

Ich nutze die Zeit, in der immer neue Teilnehmer eintreffen, um mich ein wenig auf dem Platz umzusehen. Zuerst fiel mir das große Zirkuszelt auf, das etwas abseits des übrigen Campgeschehens aufgestellt wurde. Hier sollen wohl Konzerte stattfinden, vermutet man in der benachbarten Bar. Zentral liegen die beiden Infozelte, vor denen Tafeln mit Ankündigungen und Hinweisen stehen. Rund herum liegen die verschiedenen Workshop-Zelte und in der Mitte des Platzes, auf dem „Friedrich-Merz-Platz“, thronen die Ökoklos.

Auf meinem Weg komme ich noch vorbei an den Zelten der verschiedenen Bündnisse und Initiativen; bei FSK, vor dessen Zelt eine gemütliche Sofaecke eingerichtet wurde, vorbei an Solaranlagen, an Cafézelten, Wagen mit aufgemalten Sonnen, und dem Out-Of-Action-Zelt.

Während der vergangenen Woche soll es einige Probleme gegeben haben. Der Aufbau verlief chaotisch, es gab Finanzprobleme, erfahre ich. Und auch jetzt wird noch überall gewerkelt. So richtig scheint noch keiner den Überblick zu haben, doch dieser erste richtige Camptag verlief trotzdem gut, meint ein junger Mann, der als Tomate verkleidet übers Gelände läuft.

Abends in einem der Workshopzelte wirkt die Zahl der Teilnehmer dann doch größer. Je dunkler und kühler es draußen wird, desto mehr Menschen stecken ihre Köpfe herein und lauschen der gemütlichen Runde, die es sich auf dem Gras unter einer gelben Lichterkette bequem gemacht hat und mit dampfenden gelben Anti-Atom-Bechern in den Händen die Frage nach der Rolle der radikalen Linken zur Klimaproblematik erörtert. Man merkt schnell, dass es schwierig wird, in einer gemischten und großen Gruppe zu diskutieren. So geht es den einen um eine Renaissance der Anti-AKW-Bewegung der 70er, anderen um den globalen Blick auf die Problematik, einer ärgert sich, dass auf seine Frage nach den Kosten von Windrädern gegenüber Atomkraftwerken nicht eingegangen wird, und ein anderer gesteht, dass er „irgendwie zwischen den Stühlen sitzt“. Einige nutzen die Diskussion, um nochmal auf die Strukturen des Camps an sich, auf Machtkämpfe zwischen Gruppen und mögliche Allianzen hinzuweisen.

Es fällt zuweilen schwer zu folgen, und auch hinter mir hat die gemurmelte französische Übersetzung aufgehört. Und während die Organisatoren nun damit beschäftigt sind, die beste Methode der Gruppenarbeit auszuloten, wird mir klar, dass es hier um mehr geht: Es geht darum, wie aus den vielen verschiedenen Interessen eine gemeinsame Bewegung entstehen und in welcher Form sie zu den Menschen gebracht werden kann. So wird festgestellt, dass die Frage nach Klimagerechtigkeit von Verkehr, über Landwirtschaft und grundsätzliche Kapitalismuskritik so vieles tangiert, dass diese Aufgabe nur gemeinsam und gesamtgesellschaftlich gelöst werden kann. Der Gesprächsbedarf ist groß, es wird noch lange diskutiert. Währenddessen sitzen draußen vereinzelt Grüppchen an kleinen Feuern, hören Musik, beobachten die Mondfinsternis und kommen erstmal an.

MARTINA HELMKE