In weiter Ferne

Was tun mit „Hamlet“, dem abgenudeltsten aller Theaterklassiker? Regisseur Michael Thalheimer versucht es am Hamburger Thalia-Theater mit Figuren, denen ihre Sätze nur noch bedingt gehören

Die Stimmung auf der Bühne ist angespannt. Bisher hat noch keiner ein Wort gesagt, sie sitzen nur da, zu sechst auf einem schlichten Holzpodest, und schauen ins Publikum. Außenrum ist alles schwarz und leer. Die sechs Leute schweigen und schweigen und werden langsam unruhig. Langsam müsste mal einer etwas sagen. Passiert aber nicht. Das Sprechen ist eine schwierige Sache auf dieser Bühne.

Und das aus zwei Gründen: Erstens gehören diese sechs Menschen zum königlichen Hof von Dänemark, und dort hat kürzlich ein neuer König das Amt übernommen, nachdem der alte auf mysteriöse Art und Weise gestorben ist. Gleichzeitig hat sich der neue König mit der alten Königin verbandelt und insgesamt hat das einige am Hof vergrätzt – vor allem Hamlet, den Sohn des verstorbenen Königs.

Zweitens sagt niemand etwas, weil das, was es zu sagen gibt, schon so oft gesagt wurde. Der Text ist unzählige Male aufgeführt worden, ist halt Shakespeares „Hamlet“. Die sechs auf der Bühne wollen nicht so tun, als wüssten sie das nicht. Da muss erst die Königin dem König auf den Rücken klopfen, ehe der erste Schwall Wörter aus ihm herauskommt wie eine Fischgräte, die sich im Hals verkantet hat.

Um aus einem abgenudelten Text einen interessanten Abend zu machen, muss ein interessanter Regisseur her, hat das Hamburger Thalia-Theater beschlossen und Michael Thalheimer engagiert. Der war schon öfter am Thalia tätig, ist mittlerweile leitender Regisseur am Deutschen Theater in Berlin, Feuilleton-Liebling und Dauergast beim Berliner Theatertreffen. Am Thalia unvergessen ist die Thalheimer-Inszenierung von Ferenc Molnárs „Liliom“ im Jahr 2000. Damals schimpften die Abonnenten und die Kritiker jubelten, und damit war Thalheimers Karriere nachhaltig in Gang gekommen: Thalheimer könne „durch bloßes Arrangement eine zweite, eine auf der gesprochenen Geschichte ergänzende Ebene“ aufbauen, schrieb der Spiegel.

Und nun also „Hamlet“, bei dem die gesprochene Geschichte aus lauter Gassenhauern besteht. „Sein oder Nichtsein“ und „es ist etwas faul im Staate Dänemark“ und „der Rest ist Schweigen“ – um die Macht dieser Sätze kommt man nicht herum. Auch nicht, wenn man wie Thalheimer versucht, den Text auf Distanz zu halten: König, Hamlet, Königin, sie spielen auf dem Podest wie auf einer zweiten Bühne. Weil die Akteure eines intriganten Hofstaats keine andere Chance haben, als sich gegenseitig etwas vorzuspielen. Wahrhaftig zu sein, kann sich niemand leisten, außer Hamlet – weswegen er bei anderen Inszenierungen immer der Sympathieträger ist.

Das aber ist bei Thalheimer anders. Sein „Sein oder Nichtsein“ beispielsweise bringt Hamlet hier gleich zweimal – mal gebrüllt und mal gesprochen. Hamlet bleibt ungreifbar zwischen Emotionslosigkeit und kalkulierter Raserei, zwischen Pose und Haltung. Seine Trauer ist vor lauter Distanz in weite Ferne gerückt.

Deutlich erkennbar allerdings ist das Schicksal von Polonius, dem Staatsrat, sonst immer in der zweiten Reihe gehandelt. Polonius ist in Thalheimers Hamlet-Gesellschaft der Oberschauspieler mit Tendenz zur heimlichen Hauptfigur. Einer, der dem alten König gedient hat und dem neuen König gegenüber loyal sein will und sich dafür jedes mal buchstäblich verbiegt: Wie eine Slapstick-Figur windet sich Polonius vor jedem Dialog in seine neue Rolle. Dazu trägt er Anzug und einen akkuraten Haarschnitt und schade ist, dass Polonius sterben muss. Er war tragisch, komisch und eine gute Idee.

Ohne Polonius wird der Abend immer kälter. Der König wird mit seiner Papierkrone und in seinem legeren Anzug immer mehr zum Clown, verliert zunehmend das Ruder und sucht eine starke Schulter bei seiner Gattin. Der Gattin reißt Hamlet vor Wut die Kleider vom Leib, um endlich die Lügen aufzudecken. Und Ophelia degeneriert nach dem Tod ihres Vaters Polonius zum Ballettmädchen, das in Trippelschritten ankommt, um vor ihrem eigenen Tod bedeutungsschwere Sätze zu sagen. Der Hofstaat bricht in sich zusammen, weil so viel aus ihm herausbricht. Was dem Drama keine zweite Ebene gibt, sondern durchspielt, was aus Hamlet wird, wenn es draußen karg zugeht – und seine Sätze nur noch bedingt zu ihm gehören. KLAUS IRLER

die nächsten Aufführungen: 1. und 2. Mai, 20 Uhr, Thalia Theater