Ärztin mit sozialer Verantwortung: Der heiße Stein

Die Ärztin Dörte Siedentopf organisiert seit 20 Jahren Erholungsaufenthalte für Tschernobyl-Kinder. Sie ist fassungslos über den Umgang mit Fukushima.

Geisterstadt Pripjat in der Ukraine: Die Bewohner wurden nach dem Unglück für immer evakuiert. Bild: dapd

Dr. med. Dörte Siedentopf, geboren 1942 in Oldenburg, daselbst Schulbesuch und Abitur, ab 1961 Studium der Humanmedizin in Würzburg, Berlin, Göttingen. 1966 Examen, Promotion 1968. 1967 Heirat, zwei Kinder, ab 1970 dann im hessischen Dietzenbach tätig als niedergelassene Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapie in Gemeinschaftspraxis. Seit 2003 im Ruhestand.

Sie ist (seit der Gründung 1981) Mitglied im IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung). Sie initiierte die Verlegung von "Stolpersteinen" in Dietzenbach und gründete Anfang der 90er Jahre den "Freundeskreis Kostjukovitschi e. V. Dietzenbach, der u. a. zweimal jährlich Hilfstransporte nach Weißrussland schickt, mit medizinischem Gerät, Kleidung, Fahrrädern, Nähmaschinen, Computern usw.

Seit 20 Jahren werden für Tschernobyl-Kinder Erholungsaufenthalte in Deutschland organisiert. Gastfreundliche Dietzenbacher Familien nehmen jeden Sommer weißrussische Kinder auf. Der Freundeskreis hat inzwischen zahlreiche Mitglieder und viele Freundschaften in Kostjukovitschi geschlossen. Eine Reihe von tatkräftigen Helferinnen und Helfern des Freundeskreises kümmert sich um alles, auch um das Einsammeln von Geld- und Sachspenden. Seit 2009, zum 23. Jahrestag von Tschernobyl, besteht eine Städtepartnerschaft. Frau Dr. Siedentopf ist verheiratet mit einem Mediziner, auch beide Kinder haben Medizin studiert. Ihr Vater war Landarzt, ihre Mutter Hausfrau und Lehrerin.

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Frau Dr. Siedentopf empfängt uns in ihrer kleinen Berliner Dachwohnung Anfang Dezember in Pankow am Bürgerpark. Bei Tee und Keksen erzählt sie uns von ihren Hilfsaktivitäten und Erfahrungen.

"Das Schlimmste ist, dass die Verantwortlichen nichts gelernt haben aus Tschernobyl. Ich bin fassungslos über den Umgang mit der Reaktorkatastrophe in Fukushima, die ja noch umfangreicher ist als die von Tschernobyl. Darüber, dass die Regierung die Evakuierungszone nicht entsprechend ausgeweitet und Frauen und Kinder nicht sofort in den Süden des Landes in Sicherheit gebracht hat, kann man nur hilflose Wut empfinden. Stattdessen wird die Bevölkerung systematisch belogen, sie wird gar nicht oder falsch informiert über die wirklichen Gefahren. Das ist vollkommen unverantwortlich. Was da jetzt auf die Japaner zukommt, an Erkrankungen und Problemen, das ist unvorstellbar. Und das nehmen Politik und Atomwirtschaft wirklich alles in Kauf! Weltweit!

Am Beispiel von Tschernobyl kann man sich das Ausmaß in etwa vor Augen führen. Viele Leute denken, das ist lange her, Tschernobyl ist eine vergangene Katastrophe, über die man auf Wikipedia nachlesen kann. Aber die Menschen in den radioaktiv verseuchten Gebieten leben von 1986 bis heute mit Tschernobyl. Die Folgen lassen nicht nach. Anders als bei Naturkatastrophen, nehmen sie mit der Zeit zu statt ab - und das für die nächsten 300 Jahre, mindestens. Ich gehe nachher noch genauer darauf ein." (Siehe dazu auch den Bericht der "Gesellschaft für Strahlenschutz " u. IPPNW: "Gesundheitliche Folgen von Tschernobyl, 20 Jahre nach der Reaktor- Katastrophe", Anm. G.G.)

Menschen lebten Jahrzehnte im verstrahlten Gebiet

"Vorher will ich noch kurz etwas zu den Ursachen sagen und weshalb wir uns zu einer Hilfsaktion in Weißrussland entschieden haben. Es ist so, dass der größte Teil des verstrahlten Gebietes in Weißrussland liegt. 70 Prozent der Radioaktivität ging nieder auf die damalige Sowjetrepublik Weißrussland. Ein Viertel der Landesfläche wurde verstrahlt. Etwa 15 Kilometer vom Reaktor entfernt ist die weißrussische Grenze.

Und als der Wind die Wolke dann Richtung Moskau bewegte, da hat man zusätzlich noch schnell künstlich abregnen lassen, mit Silberjodit. Natürlich ohne die Bevölkerung zu informieren. Anfang Mai, bei wunderschönem Wetter, kam plötzlich ein klebriger, gelber Regen runter, erzählen die Leute. Man hat die Bevölkerung jahrelang im Unklaren gelassen, es gab nur Umsiedelungen, Anordnungen, Beschwichtigungen. Dosimeter waren strengstens verboten.

Besonders betroffen waren die Gebiete Gomel und Mogiljow. Im Mogiljower Gebiet liegt auch das Städtchen Kostjukovitschi, in das ich seit 20 Jahren fahre. Diese beiden Gebiete wurden großflächig verstrahlt und etwa eine Million Menschen mussten umgesiedelt werden, dazu musste man erst mal in den Großstädten und Bezirken Häuser bauen. Um Minsk herum ist eine riesige Stadt gebaut worden. Viele Leute lebten zehn Jahre auf den verstrahlten Gebieten, bis sie neue Wohnungen beziehen konnten, und viele leben immer noch auf kontaminiertem Boden und treiben Landwirtschaft.

Für alles muss ja, seit dem Untergang der Sowjetunion, der weißrussische Staat aufkommen. Allein in ,unserem' Kreis sind 8.000 Menschen umgesiedelt worden. 26 Dörfer wurden abgetragen und eingegraben. Viele Dörfer in den verstrahlten Gebieten stehen leer, in einige sind alte Leute zurückgekehrt oder auch Kriegsveteranen aus Tschetschenien oder Afghanistan, die nicht in der Stadt leben können.

Vergleichbares gibt es in der Sperrzone um Tschernobyl herum. Menschen leben in den alten Dörfern, ohne Strom, ohne Leitungswasser und versorgen sich selbst, so gut sie können. Dort ist überall sandiger Boden, wie in Berlin - die Birken gehen von hier bis nach Moskau. Das Grundwasser ist sehr niedrig, d. h., wenn die Radioaktivität 2 Zentimeter pro Jahr in den sandigen Boden sinkt, dann ist die also jetzt bei 50 Zentimeter angekommen und nicht mehr weit entfernt vom Grundwasser.

Die Hälfte des Haushalts

Es hat also gewaltige Umwälzungen gegeben dort. Die Kosten für Weißrussland, auch die gesundheitlichen, waren immens. Die ganzen Erdarbeiten, die in den zehn, fünfzehn Jahren nach Tschernobyl gemacht worden sind, die Dekontaminierung der Schulhöfe, die ganzen Abtragungen - was weiß ich, wohin sie das gebracht haben. Also das alles hat der Staat Belarus bezahlt. Ich glaube, die Hälfte seines Haushalts ist in die Beseitigung von Tschernobyl-Folgen geflossen.

Und eines Tages konnte und wollte man die vergleichsweise großzügigen Regelungen aus sowjetischen Zeiten nicht weiterhin erfüllen. Deshalb hat Präsident Lukaschenko Tschernobyl quasi als überwunden erklärt, als museales Ereignis. Es gehen von den ehemals verstrahlten weißrussischen Gebieten keine Gefahren mehr aus, wurde offiziell erklärt.

Bis 20 Jahre nach der Katastrophe hatte es immer noch Vergünstigungen gegeben, es wurde ein sogenanntes Sarggeld bezahlt, an Leute, die als Liquidatoren ihren Ausweis hatten. Aber auch Leute, die umgesiedelt wurden, hatten einen Anspruch. Diese Zahlungen wurden weitgehend eingestellt. Es war nicht viel Geld, aber dazu kam noch kostenfreie medizinische Versorgung, die jetzt auch abgeschafft wurde. Und die Anerkennung bestimmter Krankheiten, als Folge von Tschernobyl, ist auch nicht mehr selbstverständlich.

Fast eine Million ,Aufräumarbeiter' - meist junge Männer - wurden in Tschernobyl und Umgebung eingesetzt. Ein großer Teil von ihnen kam aus Weißrussland. Heute sind die meisten Liquidatoren invalide, haben Lungen- und Schilddrüsenkrebs, Herz-Kreislauf-Krankheiten, Erkrankungen der Nieren, des Magen-Darm-Bereichs, Leukämie und auch psychische Erkrankungen. Etwa 100.000 sind bislang gestorben, im Alter zwischen 40 und 50 Jahren. Viele begingen Selbstmord. Und da wurde einfach gesagt, Tschernobyl ist vorbei. Es hat Proteste gegeben in Minsk. Und gerade jetzt ist in Kiew wieder protestiert worden, mit einem Hungerstreik der Liquidatoren, gegen die krassen Einschnitte, die auch die Ukraine an Renten und Vergünstigungen vorgenommen hat.

In den Dörfern sind die Kosten niedriger

In Weißrussland war zum Beispiel für Betroffene der Kindergarten kostenlos, das Schulessen war kostenlos, die Kinder bekamen auch besondere Vitamine, und Kuren - die bekommen sie zwar jetzt auch noch, einmal pro Jahr, aber ansonsten wurde alles zurückgefahren. Auch das vitaminreiche Essen für die Schulen und Kindergärten. Also der Ausweis, den sie alle haben, den haben sie uns gezeigt, aber der gilt eigentlich nicht mehr. Alle ehemaligen Ansprüche sind gestrichen.

Wenn man ohnehin nur wenig hat und auch noch krank ist, dann wirken sich die Streichungen und Kürzungen sehr empfindlich aus. Jetzt gerade haben sie wieder - wie jedes Jahr - die kommunalen Abgaben erhöht, also Wasser und Wärme. Und die Wärme für die Stadt, für die großen Häuser und Blocks, die läuft im Winter in unisolierten Rohren über das Feld, da geht schon jede Menge verloren, was ja auch bezahlt werden muss. Deswegen leben auch viele Leute lieber in den Dörfern, dort können sie ihre Kosten reduzieren.

Die hohe Staatsverschuldung, die alle Menschen einschränkt und bedrückt, ist sicher einerseits durch Tschernobyl bedingt, aber auch durch massive Misswirtschaft. Es gibt eine Hyperinflation in Belarus, momentan sind das etwa 113 Prozent. Der Durchschnittsverdienst liegt bei 150 bis300 Euro im Monat. Arbeiten im Ausland ist nicht erlaubt.

Keinerlei Opposition wird geduldet

Die Grenzen zu den neuen EU-Mitgliedstaaten Polen, Lettland, Litauen sind dicht für Weißrussen. Aber es ist nicht nur das Geld, der drohende Staatsbankrott, es gibt auch eine ungeheure Unfähigkeit, wirklich in 20 Jahren irgendwas an Staat überhaupt aufzubauen, an Demokratie. Keinerlei Opposition wird geduldet. Dennoch kommt es zu Protestdemonstrationen. So auch gegen den ungeheuerlichen Beschluss, ein AKW zu bauen.

Weißrussland hat kein AKW. Aber unmittelbar nach Fukushima hat Lukaschenko gesagt, er will jetzt eins bauen, mit russischer Hilfe, in Ostrowez, 20 km von der litauischen Grenze entfernt. Der Vertrag wurde inzwischen von Lukaschenko und Putin besiegelt. Es wird mehr als 5 Milliarden Euro kosten, wurde gesagt, das AKW soll modern und vollkommen sicher sein, saubere und preiswerte Energie liefern und Arbeitsplätze schaffen, all diese Propagandageschichten. Da ist die Atomindustrie in Ost und West gleich.

Also das sind so andeutungsweise die äußeren Bedingungen. Vieles kenne ich aus eigener Anschauung. Angefangen hat das so: Wir haben damals, 1990 - nach Glasnost und Perestroika - an einer Gruppenreise nach Minsk für Versöhnung und Völkerverständigung teilgenommen. Veranstalter war ein kirchlicher ,Arbeitskreis Frieden' in Bonn/Bad Godesberg."

(Die Republik Weißrussland hatte am meisten unter dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion zu leiden, unter den Gräueltaten von Militär und Sondereinsatzgruppen. Nach drei Jahren Besetzung war das Land verwüstet und ausgeraubt, es verlor viele Einwohner, und fast die gesamte jüdische Bevölkerung war ermordet. In der Nähe von Minsk errichteten die Deutschen das größte Vernichtungslager auf sowjetischem Boden. Anm. G.G.)

"Das hat mich auch deswegen interessiert, weil mein Vater lange Jahre… es gibt Briefe aus Brest. Festung Brest. Es gibt Bilder…, auch im Lazarett. Das war eben, wie heißt das? Heeresgruppe Mitte, eines der Lazarette, die sie da hatten. Briefe und Bilder… und wie er da so… Irgendwie dachte ich immer, ich muss das mal sehen. Wir haben natürlich nie mit ihm über all diese Dinge geredet. Und 1963 ist er dann gestorben, an einer bösartigen Erkrankung auch. Ich weiß nur noch, meine Mutter kolportierte, dass er mal gesagt hat: ,Wenn wir den Krieg verlieren, dann gnade uns Gott!'"

Die Kinder mit den Narben

Frau Dr. Siedentopf hat sich wieder gefangen und erzählt weiter: "Wir haben alles angeschaut, auch das ehemalige Getto. Und eher zufällig haben wir fünf Ärzte aus der Gruppe dann auch eine Klinik besucht, außerhalb von Minsk. Da erholten sich Kinder, die behandelt wurden nach Schilddrüsenkrebs. Das waren die ersten Opfer, die wir sahen, in einem ehemaligen Erholungsheim für Funktionäre. Alle Kinder waren blass und mit einer roten Narbe am Hals.

Da ist uns das erst klar geworden, dass Tschernobyl nicht vorbei ist. Eine Ärztin sagte uns dann, dass ihnen eigentlich nicht so sehr Versöhnung und Völkerverständigung helfen könnten, sondern dass sie konkrete medizinische Hilfe brauchen. Wenn wir helfen möchten, sollen wir in die Provinz gehen, die großen Kliniken in Minsk seien schon relativ gut versorgt. Da war die Frankfurter Uniklinik engagiert. Und wir bekamen eine Anschrift und sagten, wir überlegen das mal. Und bald darauf sind wir dann zu zweit nach Kostjukovitschi gefahren. Das liegt etwa 180 Kilometer Luftlinie von Tschernobyl entfernt, im Osten Weißrusslands.

Meine Stadt Dietzenbach hat 35.000 Einwohner, etwa so viele wie Kostjukovitschi. Wir besuchten dort den Chefarzt in einem alten Krankenhaus von 1905, es war unglaublich, Baracken, so im Gelände verteilt, ohne irgendwas. Er zeigte uns alles, und wir lernten dann auch die hochschwangere Apothekerin Larissa kennen, die bis heute unsere zuverlässige Verbindungsfrau und auch Freundin ist. Sie zeigte uns ihre Apotheke, die ebenfalls sehr schlecht ausgerüstet war. Es fehlte an Verbandsmitteln, an Verbrauchsmaterial. Für Kinder, hieß es, gibt es keine Zäpfchen. Sie konnte auch keine selbst herstellen, denn es fehlte die Rohsubstanz Kakaobutter.

Und warum macht ihr keine Augen- und Ohrentropfen? Es gibt keine Pipettenfläschchen, erklärte sie. Und da begann dann unser Projekt erst mal mit der medizinischen Hilfe. Es ging um die Folgekrankheiten von Tschernobyl, darum, da irgendwie behilflich zu sein. Und mit diesen Menschen, dem Chefarzt, der Apothekerin und noch einer Kinderärztin, haben wir dann eigentlich zehn Jahre lang ein sehr intensives medizinisches Projekt gehabt.

Wir haben für das Apothekenprojekt geschickt - oder gebracht -, was an Substanzen benötigt wurde. Sie haben es dort selbst verarbeitet. Die Kinderzäpfchen wurden dann kostenlos oder ganz billig abgegeben. Eine wichtige Hilfe waren auch gynäkologische Präparate, Frauenzäpfchen. Nach zehn Jahren war das dann nicht mehr möglich, weil die Medikamentenzuteilung zentralisiert wurde, die Apotheken waren nur noch Verkaufsstellen und durften nichts mehr selbst herstellen.

Zu dieser Anfangszeit hatte das auch schon angefangen, dass Kinder eingeladen wurden nach Deutschland. 1990 waren die ersten Kinder in der DDR eingeladen zu Erholungsaufenthalten. Die konnten dort ja auch Russisch und hatten schon Kontakte. 1991 fing es dann auch bei uns an. Unsere Stadt hat gesagt, sie wird die Finanzierung von 50 Kindern aus der Tschernobyl-Gegend übernehmen für einen Urlaub im Taunus. Aber ich sagte, sie sollen doch Kinder aus Kostjukovitschi nehmen und auch unsere Familien in Dietzenbach sollen sich mit dem Thema beschäftigen.

Ich war etwa 40-mal in Weißrussland

Und so wurde es dann gemacht, wobei zwei, drei Jahre es noch die Stadt finanzierte und danach unser ,Freundeskreis Kostjukovitschi e. V.', der sich dann auch juristisch gegründet hat, damit wir die Spendengelder richtig abrechnen konnten. Die Familien und die Kinder haben sich trotz Sprachschwierigkeiten und Fremdseins sehr schnell miteinander angefreundet. Viele dieser Freundschaften haben sich erhalten über die Jahre. Bis heute waren mehr als 900 Kinder und 250 Erwachsene in Dietzenbach unsere Gäste. Viele freundschaftliche Gegenbesuche haben stattgefunden. Und ich bin seitdem etwa 40-mal in Weißrussland gewesen.

Vom ersten Jahr an eigentlich haben wir immer auch - neben der medizinischen Hilfe - fehlende Gegenstände für das Alltagsleben in dieser Mangelgesellschaft gesammelt. Erst in meiner Praxis, später bekamen wir dann eigene Räume. Es wurden Pakete geschickt, es fahren zweimal jährlich Transporte mit Lastwagen, wir sammelten alles, Kleidung, Fahrräder, Nähmaschinen, Spielzeug, Musikinstrumente, Computer, Sportgeräte usw. Wir hörten uns auch dort um, was so gebraucht wird, eine Kunstschule wünschte sich einen Brennofen.

Ein Altenheim auf dem Dorf brauchte alles: Betten, Matratzen, Bettzeug, Kleidung, Teppiche, Möbel, Geschirr usw. Da waren wir sehr engagiert, es gab auch eine Einrichtung für das Kabinett des Arztes, der da ab und zu hinkommt, Liege, Apparate. Oder auch für Kinderärzte haben wir Stethoskope und Ohrspiegel geschickt, an denen es fehlte, oder Spekula, mit denen man in die Nase guckt, solche Dinge. Ach ja, auch kleine Spiegel, mit denen man in den Kehlkopf guckt, schickten wir. Die sind aber immer nach einem Jahr schon blind geworden, und wir haben gefragt, was sie denn damit machen. Die wurden sterilisiert in der allgemeinen Sterilisation, die die Spiegel kaputt machte. Dann haben wir einen eigenen kleinen Sterilisator besorgt, und ab da lief es dann.

Ein anderes Projekt sind Kindergärten. Wir gingen in die Dörfer und haben gesehen, dass sie nichts haben an pädagogischem Einrichtungsmaterial. Nicht mal Bauklötzchen oder Puppenwagen. Mit dem nächsten Transport haben wir dann so eine Grundausstattung geschickt. Und als ich mal wiederkam, im Winter, da waren nur noch drei Kinder da. Und man erklärte mir, nein, die sind nicht krank, die Eltern können das nicht bezahlen, wir sind zwar ein Umsiedlungsdorf, aber die Hilfen wurden gestrichen.

Und im Winter haben die Eltern keine Arbeit auf der Kolchose, da behalten sie die Kinder zu Hause. So haben wir dann die Kosten übernommen, und es kamen noch viele andere Kindergärten dazu. Der kleinste, den wir zurzeit finanzieren, das ist einer mit fünf Kindern. Sie leben in einem Ort, wo es nichts mehr gibt. Kolchose ist nicht mehr da, Schule ist weg, nur noch den Kindergarten gibt es. Und ganz wichtig für Kindergartenkinder ist, es gibt dort mehrere Mahlzeiten, vitaminreiches, gesundes Essen.

Nun will ich zum Gesundheitszustand kommen, über den man wohlweislich hier nichts zu hören bekommt. Es ist wichtig, dass man sich mal klarmacht: Mit dem Abstand zum Ereignis werden die Folgen für die Menschen und das biologische Leben immer katastrophaler. Das wollen unsere Regierungen und Medien genauso wenig sehen wie Lukaschenko, der das Ereignis per Beschluss für MUSEAL erklärt.

Die versteckten Mütter

Nach Tschernobyl gab es verschiedene katastrophale Wellen. Die erste betraf einerseits Erwachsene: Liquidatoren, Ärzte, Leute, die in die verstrahlten Dörfer gingen, und die Bevölkerung dort auch. Da sind viele recht bald an Krebs gestorben. Und andererseits waren dann gleich die Kinder betroffen. In dieser Gegen Weißrusslands herrscht Jodmangel - sie haben ja keine Küste wie die Japaner zum Glück -, und so wurde das radioaktive Jod massiv aufgenommen von der kindlichen Schilddrüse. Es hat eine kurze Halbwertzeit, also das ist in den ersten zehn Tagen aufgenommen worden.

Man hat nach Tschernobyl versucht, bei allen betroffenen Schwangeren abzutreiben. Die Mütter haben sich aber zum Teil versteckt. Und direkt in dem Jahr danach gab es auch bei diesen Kindern Schilddrüsenkrebs. Eine Krankheit, die es vor Tschernobyl bei Kindern gar nicht gab. 4.000 Schilddrüsenkrebsfälle bei Kindern in Weißrussland sind offiziell bestätigt, die sind operiert, die sind nachbestrahlt, die müssen lebenslang Hormone nehmen, sonst werden sie zu Kretins. Aber das müssten sie eigentlich kostenlos kriegen, auch heute, 25 Jahre danach noch, und auch im Falle der später aufgetretenen Funktionsstörungen.

Wir haben jetzt bei der nächsten Generation vermehrt auftretende Bluterkrankungen. Wir sagen: TSCHERNOBYL WÜTET IN DEN GENEN. Und das ist die nächsten 300 Jahre so, weil Strontium und Caesium eine Halbwertzeit von 30 Jahren haben und das mit 10 multipliziert. Das ist die Faustregel. Sieben bis acht Generationen, mindestens. Ganz zu schweigen vom Plutonium, das eine Halbwertzeit von 24.000 Jahren hat. Ein Problem ist Diabetes, bei Kindern und Erwachsenen. Besonders bei Neugeborenen. Das gab es früher auch nicht.

Und es ist so, dass der Staat zwei Sorten Insulin einkauft, und damit müssen alle klarkommen. Kinder brauchen aber mindestens noch eine dritte Sorte, und die gibt es nicht, außer es kümmern sich NGOs darum. Die betreiben auch die fehlende Aufklärung. Ein anderes Problem sind Augenstörungen bei Kindern, Linsentrübungen. Und es gab eine Zunahme von Brustkrebs bei Frauen, viele starben innerhalb von fünf Jahren. Könnte es sein, dass strahleninduzierter Krebs viel bösartiger ist als ein Alltagskrebs, der sich entwickelt?

Die Zahl der Missbildungen ist gestiegen. Abtreibung ist ein großes Thema. Schwangerschaftsverhütung kostet Geld, das kann sich kaum jemand leisten. Das ist ein großes Problem. Und es gibt andererseits das Problem der unfruchtbaren Paare. In Kostjukovitschi gibt es 30 Prozent ungewollt sterile Ehen. Eine andere Geschichte ist die Zunahme bösartiger Tumore, die 6-, 7-, 8-, 9-jährige Kinder jetzt entwickeln. Hirntumore, Knochentumore.

Ein weiteres großes Problem: In den verstrahlten Gebieten heilten Wunden nicht mehr, es war dramatisch. Der Grund ist eine Immunschwäche, weil das radioaktive Strontium sich in den Knochen einbaut und da bleibt. Und im Knochen wird das Blut gebildet, es wird ständig bestrahlt! Es ist dann wie bei Aids, dass Impfungen nicht angehen, weil keine Antikörper mehr gebildet werden. Also auch Zunahme von Polio, trotz Impfungen. Und es gibt eine Zunahme von Tuberkulose, weil auch da die Impfungen nicht mehr angehen und die Leute einfach auch keine gute Ernährung haben. Zudem haben viele ihr Gemüse mit Regenwasser gegossen und sie sammeln im Herbst Pilze und Beeren, die immer noch hochkontaminiert sind.

Geschädigte Zellen

Die Vielzahl der behinderten Kinder, mit geistigen und körperlichen Beschädigungen, ist eine direkte Folge der Strahlenbelastung. Man muss sich das mal klarmachen, dass bei den Frauen ja die Eierstöcke bereits in ihrem Embryonalstadium angelegt sind, eine große Menge von Zellen entwickeln sich zu Eierfollikeln, 8 Millionen. Und alle Schädigungen der Mutter kriegen diese Zellen ab. Die Placenta hat eine Schutzschranke, und ausgerechnet da kann sich die Radioaktivität sozusagen konzentrieren. Die beschädigten Eier können nicht repariert werden. 1 bis 2 Millionen sind es bei der Geburt. In der Pubertät noch etwa 400.000. Und die können dann bereits im Mutterleib beschädigt worden sein mit den entsprechenden Folgen bei einer Schwangerschaft.

Und noch etwas ist sehr wichtig zu wissen: Was die genetischen Schäden angeht und die Krebshäufigkeit usw., das sind alles Folgen von NIEDRIGSTRAHLUNG, und das ist etwas anderes als die Strahlenkrankheit der Liquidatoren. Etwas, das permanent von den Verantwortlichen geleugnet wird.

Die Schädigung der Organe durch inkorporierte künstliche Radionuklide, daran sind die kurzwelligen Strahlen schuld. Bei Zellschädigung durch Radioaktivität hat die Zelle vier Möglichkeiten. 1.: Die Zelle stirbt sofort ab. 2.: Die Funktion der Zelle wird zerstört. 3.: Die Zelle entartet und es entwickelt sich Krebs. 4.: Die Zelle kann sich reparieren. Das können aber nur erwachsene Zellen. Embryonen haben gar keine Reparaturmechanismen, auch Kinderzellen können das nicht. Sie sind aufs Wachsen und Teilen aus und erst allmählich kriegen sie ihren Reparaturmechanismus. Und deshalb sind Kinder auch so besonders gefährdet. Und aus diesen Gründen hätten alle Schwangeren und Kinder sofort aus Fukushima weggebracht werden müssen!

Die Atomwirtschaft, das ist noch mal eine Dimension, die wir gar nicht einschätzen können, weil so viele wirtschaftliche Interessen, so viel Geld dahinter stecken. Was wir aber einschätzen können, ist, dass sie und ihre Lobbyisten - zu denen auch die Politik und die einschlägigen Organisationen gehören - absolut zynisch sind und entsprechend agieren. Das fängt schon an mit den Grenzwerten. Selbst in der Ukraine und in Weißrussland gelten niedrigere Grenzwerte als bei uns.

Es gibt einfach keine verbindliche unabhängige Instanz auf der Welt. Die WHO hat nur EINEN EINZIGEN Menschen, der sich mit Strahlung beschäftigt! Aber sie hat ja ohnehin nichts zu sagen. In Strahlen-Angelegenheiten hat sie einen absoluten Maulkorb. Seit dem Vertrag von 1957 ist sie der IAEO (International Atomic Energy Agency) unterstellt, und die unterdrückt jede Meldung über die reale Strahlengefahr. Wir müssen das anprangern, diese Unterstellung der WHO unter die IAEO, diesen Knebelvertrag. Der IPPNW fordert eine Kündigung dieses Abkommens! Vielleicht kann die WHO dann endlich dem Artikel eins ihrer Verfassung gerecht werden: allen Völkern zur Erreichung des bestmöglichen Gesundheitszustandes zu verhelfen."

Der Foodwatch-Report des IPPNW (August 2011, deutsche Sektion), formuliert unmissverständlich: Die Festsetzung von Grenzwerten ist letztlich "eine Entscheidung über die tolerierte Zahl von Todesfällen".

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