Leer Switch Project

Im Frühjahr 1969 verließ der Schriftsteller Jochen Schimmang die ostfriesische Kleinstadt Leer, um in Berlin sein Glück zu suchen und seinen ersten Roman „Der schöne Vogel Phönix“ zu schreiben. Dreißig Jahre später kehrt er zurück und findet sein Glück

von JAN BRANDT

Jochen Schimmang ist frisch verliebt. Er sitzt im Taraxacum, das Café und Buchhandlung in einem ist, und bestellt einen Portwein und einen Kakao. Wegen seiner neuen Freundin sei er aber nicht nach Leer zurückgekehrt. „Dafür gibt es keinen Auslöser“, sagt der Einundfünfzigjährige.

Im Frühjahr 1969 verließ Jochen Schimmang die ostfriesische Kleinstadt, um in Berlin zu studieren. Nach dreißig Jahren, vielen Reisen und Aufenthalten in Wiesbaden, Bochum, Köln und Paris hielt er es für gefahrlos, an den Ort zurückzukehren, an dem alles anfing, das Lesen und das Schreiben und der Kampf ums Überleben. In seinem ersten, autobiografischen Roman „Der schöne Vogel Phönix“ von 1979 erinnert sich der damals Dreißigjährige an die „wunderbaren Jahre“ in Leer und an die weniger wunderbaren in Berlin.

Murnau, wie er sich selbst nennt, wohnt bei seinen Eltern, geht zur Schule, liest viel und kennt sich aus, zitiert Brecht und Sartre. Seinem „bleichen Intellektuellengesicht“ sieht man an, „dass er mindestens an der Schülerzeitung mitarbeitet“. Er hat ein paar Freunde, hört die Beatles und geht viel ins Kino. Murnaus Welt hat eine feste Ordnung.

Doch Murnau hat ein Problem: Er wird gemocht, aber nicht gebraucht. Um seinen Platz zu finden, zieht er aus. Und landet am falschen Ort. In einer Garnisonsstadt am Jadebusen, wo er als Gefreiter seinen Wehrdienst leistet, während seine Freunde in Berlin demonstrieren. Er liest „Rebellion der Studenten oder Die neue Opposition“, aber ist nicht dabei. Für seine Genossen ist er ein Unbekannter und vollkommen überflüssig. Als er ein Jahr später endlich das Traumziel Berlin erreicht, erweist sich die Stadt „als Denkmal von etwas, was nicht mehr da war“.

Diese verschwundenen Denkmäler zu beschreiben, hat sich Jochen Schimmang zur Aufgabe gemacht. Indem er Unsichtbares benennt, macht er die eigene Geschichte wieder greifbar. So unterschiedlich seine inzwischen über zehn Bücher auch sein mögen, die genaue Beschreibung der Topografie bildet den Rahmen, der seine rastlosen Figuren zusammenhält.

Im „Phönix“ hat er es aber vermieden, Leer namentlich zu erwähnen. Weil er nicht „in die Falle des Heimatdichters“ tappen wollte. Leer – Berlin. Zwischen diesen Welten bewegt sich Murnau, von einer unbestimmten Angst getrieben, empfindsam, aber immer bemüht, die eigene Überflüssigkeit zu überwinden. Zum Beispiel, indem er sich in einer der zahlreichen Kadergruppen engagiert. Gemeinsam will man die Revolution über das Proletariat herbeiführen.

Murnau schreibt Flugblätter und Thesenpapiere. Endlich wird er gebraucht. Jedenfalls geben ihm Termine und Aufgaben das Gefühl, eine Funktion zu haben. Bald machen sich aber in der „Extrawelt“ der Kader Hierarchien und Zwänge bemerkbar. Man spricht von einer „realen Bewegung“ und ist von der Realität weit entfernt. Und Murnau erinnert sich in der „sterbenden, faulenden Stadt Westberlin“ daran, dass er nicht nur Kader ist, sondern auch Politologiestudent. Auch privat beginnt er sich neu zu bestimmen. Er verliebt sich und erlebt zum ersten Mal in Berlin eine Zeit ohne Angst. Als die Beziehung zu Ende ist, wird das Überleben wieder schwieriger und die Teilstadt zur Sackgasse. Murnau lässt „dieses eingebildete Berlin, diesen Mikrokosmos, der sich für die Welt hielt“, hinter sich, reist quer durch die Bundesrepublik und beginnt mit seiner Biografie, als hätte er das Leben schon hinter sich. Mit der „Heimkehr zu den Wörtern“, wie ein Kapitel heißt, befreite sich Schimmang aus dem selbst gewählten Ghetto. „Das Schreiben“, sagt er, „war eine Überlebensstrategie, eine Art zurückzufinden zum normalen Leben.“

Die Trauerarbeit zahlte sich aus. Der Roman war ein Erfolg, verkaufte sich fast 30.000 Mal. Manche kritisierten zwar die seelenschweren Erkenntnisse des Chronisten, andere, wie die Berliner Linken, warfen ihm vor, ihre Geschichte simplifiziert zu haben, aber mit dem Leiden des jungen Studenten Murnau konnten sich viele identifizieren.

In Leer wird Schimmang als Heimatdichter vereinnahmt.

Kein Wunder in einer Stadt, in der Kultur vom so genannten Verein junger Kaufleute gefördert wird. Leer ist eine kulturelle Einbahnstraße. Heimatdichter kann man in Berlin nicht werden, auch wenn man über nichts anderes schreibt. Ein Berlin-Roman ist immer nur ein Berlin-Roman mehr. Für Jochen Schimmang war Berlin keine herausragende Zeit: „Später habe er Schöneres erlebt.“ Vielleicht liegt es genau daran, dass er das schönste Buch über die Provinz Westberlin und später nichts Schöneres geschrieben hat. „Kulturschaffen“, sagt Jochen Schimmang, „entsteht immer aus einem Mangel.“

Im Moment wird er gebraucht. „Jetzt muss ich zu meiner Liebsten“, sagt er und läuft durch die engen, verregneten Gassen einer Kleinstadt, in der die Orte keine Denkmäler mehr sind. Überleben ist einfacher geworden.

Jochen Schimmang: „Der schöne Vogel Phönix“. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1979, 300 Seiten. Vergriffen