Der Kreuzberger Urknall

Schimpfen, kratzen und „Warte mal, Jan, meine Tigerente ist runtergefallen“: Boule am Paul-Lincke-Ufer ist weit gefährlicher, als es beim ersten Hören den Anschein hat. Manchmal bricht dabei gleich der ganze Bezirk entzwei

von CHRISTOPH BRAUN

Endlich sitzen können! Auf einer Mauer in der Sonne, vor mir liegt das Café „Salatgarten“, rechts das „Senti“. Direkt vor der Mauer erstrecken sich die Bouleplätze am Paul-Lincke-Ufer in Kreuzberg. Man kann die Steinchen töpseln hören, mit denen der Platz bestreut ist. Füße laufen darüber, Kugeln walzen über sie hinweg. Andere der silbernen Sportgeräte treffen mit einem dumpfen Poltern auf die Holzwändchen, mit denen die Plätze voneinander getrennt sind.

Die Klänge bezeugen einen regen Betrieb auf den Boulefeldern, doch auch auf der Mauer ist man nicht allein: Dicht an dicht lauern Leute und unterhalten sich in moderater Lautstärke. Man achtet die Boulisten. Man hört ihnen zu. So viele Hörende sind es sogar, dass es zu einer bedrohlichen Belastung des schmalen Streifens gekommen ist, auf dem Stimmbänder flattern und Fahrräder ineinandergescheppert werden. Hinter der Mauer plätschert schon der Kanal, nur zwei, drei Meter vor ihr hört man die Schritte auf dem Uferweg. Jenseits des Weges, auf den Spielfeldern, finden die Stimmen der Boulespieler mehr Raum, sich auszudehnen. Die Schritte von einem der Spieler lassen auf einen Körper von etwa zwei Meter Größe und gröberen Umfang schließen.

Als er sich am Kinn kratzt, raschelt es. Er ist unrasiert. Jetzt konzentriert er sich. Mitspieler und Gegner schweigen. Alles Männer. Ein Knacken dann – der Spieler geht in die Knie. Leises Rascheln, als der Körper seine Richtung auf die Zielkugel ausrichtet und fein justiert. Der Pullover knistert beim Ausholen des Wurfarmes. Plötzlich wird man gezwungen, innezuhalten. Ein beleidigter Vater ruft auf dem Uferweg: „Also nee, Bob und Goetz, wenn ihr immer nur streitet, fahr ich jetzt nach Hause!“ „Bob“ und „Goetz“. Denkt man sich, warum nicht „Rainald“ und „Goetz“. Oder „Bob“ und „Wilson“. Warum „Bob Goetz“. Bloß ein unglücklicher Kompromiss zwischen Vater- und Mutterwunsch? „Bob Goetz“. Wie soll sich das so benannte Bruderpaar je einig werden?

Gedanke ausgedacht, rasch zurück zum Zweimetermann. Sein Handgelenk schnappt gerade nach oben und katapultiert die Kugel raus. Ein Aufprall, und im selben Moment hat sich schon wieder ein Fahrrad in den Vordergrund der Klanglandschaft geschoben. Es wird vom lauten Rufen einer Erwachsenen begleitet: „Warte mal, Jan, meine Tigerente ist runtergefallen.“ Jan wendet sein Rad – Bremsen quietschen, die Räder rascheln auf der Erde. „Nichts passiert. Wäre ja auch zu doll. Hab mein schönes Tigerenten-Windspiel doch erst im März gekauft!“ Die Tigerente, von Janosch, als Windspiel. Man beginnt zu ahnen, welche Kreisen hier verkehren.

Kaum von dem Schlag erholt, gelingt es einem gerade noch, rechtzeitig zum Aufschlag der Kugel des Zweimetermannes hinzuhören. Sie trifft eine Gegnerkugel. Es tokkt metallen. Im Anschluss ein gedehntes Rumpeln, als die Kugeln zur Seite kullern. Wie immer bei solchen Treffern.

Dann aber knackt es, und auf das Knacken folgt ein Knall. So laut, dass es ein Verbrechen am Trommelfell ist. Die Erde reißt zuerst in chaotischen Klangmustern auf. Überall verzerrtes Poltern, laut und in Dolby Surround. Dann ein langes zzzzzck!, und die Erde spaltet sich. Kann nur der Uferweg sein.

Und schon driften ich und die ganze Schar der PassantInnen bass erstaunt gen Neukölln, während die Scholle der Boulefelder in wahnwitziger Geschwindigkeit auf den Görlitzer Bahnhof zu rauscht. Wenn auch nur ein winziger Teil verloren ist: Kreuzberg ist für immer geografisch gespalten. Über zwei Theorien vom Kreuzberger Urknall an diesem Tag wurde später besonders leidenschaftlich debattiert.

AnhängerInnen der unterschiedlichsten Religionen sahen darin eine Strafe Gottes. Ein Fingerzeig für einen Stadtteil, in dem Kinder „Bob“ und „Goetz“ genannt und Erwachsene mit Tigerenten umherfahren dürfen. Für LiebhaberInnen der Verschwörungstheorie war jedoch klar: Der Zweimetermann war ein Konspirateur der „Freunde der originellen Werbung“. Nachdem er die Joschka-Fischer-Kinowerbung einer Tageszeitung mit Sitz in Kreuzberg gesehen hatte, ließ er sich zu dem Anschlag verleiten. Voller Hass auf den Stadtteil hatte er monatelang ausgetüftelt, wo der neuralgische Punkt des Bouleterrains am Paul-Lincke-Ufer sitzt. Diesen mit der Boulekugel zu treffen und Kreuzberg für immer zu schaden war dann so einfach, wie ein Kinderliedchen zu pfeifen.