zwischen den rillen
: Jimi Tenors neues Album „Out Of Nowhere“

Endlich M.U.S.I.K.

Auch wer den ein oder anderen Hitchcock-Film mehr aus Pflichterfüllung denn Begeisterung angeschaut hat, wird sich beim ersten Stück von Jimi Tenors neuem Album sofort an einen dieser Klassiker wie „Vertigo“ oder „Psycho“ erinnert fühlen. Und wem die Scores von Bernard Hermann nicht so geläufig sind, darf auch an Schönberg oder Weber denken. So dissonant stemmen sich im Titelstück „Out Of Nowhere“ die Streichergruppen gegeneinander, so höhnisch klingen die sonst so lieblichen Triangeln, so dramatisch setzt das Orchester unisono ein, um dann urplötzlich für eine Minimelodie dem Piano Platz zu lassen.

Kaum ist man danach wieder zu Atem gelangt, steckt Tenor mit dem folgenden Stück spektakulär und souverän sein musikalisches Feld ab. Eine Sitar zieht ihre Bahn, ein Sänger aus dem Orient taucht kurz auf, Bongos geben das Tempo vor und dann beginnt ein ausladender, opulent angerichteter langsamer Schieber erster Güte. Die Flöten zwitschern, die Drums fegen lässig, irgendwo von dahinten schleicht sich ein Bläsersatz nach vorne und gibt, als alle kräftig in die Hörner blasen, das Zeichen für den Gesangseinsatz. Auftritt Jimi Tenor, diesmal als Prince, Curtis Mayfield und Sly Stone, als Kopfstimme, Komponist und nicht wie sonst als verkappter Conferencier.

Wer an Jimi Tenor schon vor längerem das Interesse verloren hatte, weil der in London lebende gebürtige Finne vor lauter Ironie kaum noch aus seinem übergroßen schwarzen Brillengestell gucken konnte, muss jetzt Buße tun, sein Haupt in Demut senken, sich den Flagellanten anschließen oder was sonst die Schriften für die Wiedergutmachung eines schweren Fehltritts vorschreiben. Wir haben ihn verkannt. Aber als würde er eine solche Rezeptionshaltung erwarten, nennt er sein neues Album auch noch „Out Of Nowhere“, es kommt aus dem Nichts, hat mit den Vorgängeralben – wie viele waren das eigentlich? – wenig zu tun. Alles sei ihm verziehen, auch dass er Musik bislang hauptsächlich als Mittel der Darstellung einer etwas kruden, eben finnischen Form urbaner Hipness benutzt hat – was hier passiert, ist Musik.

Weil das so ist, stimmen als Referenz auch die schon genannten drei großen Namen. Und weil durch die Verfilmung von „High Fidelity“ das Wohlwollen gegenüber Typen wie uns gerade auf einem Höhepunkt sein dürfte, kommen jetzt noch ein paar. Das Fließen des Glockenspiels über dem blubbernden Bass in „Pylon“ könnte so von Alice Coltrane sein; die upliftende und doch unpoppige Melodie in „Spell“ ist typisch für Laura Nyro; der seltsame Funk in „Blood on Borsch“ erinnert stark an Tim Buckley aus der „Look At The Fool“-Phase. Wer will, hört hier noch eine Menge Isaac Hayes, aber auch Van Morrison. Und zwischendurch drückt sich immer wieder das für Tenor typische artifizielle Pathos durch. Diesmal aber nicht als Hauptthema, sondern um die Epigonalität dieses Albums auf der Höhe der Zeit zu halten.

Warum sind derzeit die Bezüge zur Popmusik der späten Sechziger, frühen Siebziger so stark? Wie damals steht heute die Form des Songs zur Disposition. Stand die Infragestellung vor dreißig Jahren am Anfang, aus dem dann Disco auf der einen, ProgRock auf der anderen Seite entstanden, ist man heute, nach zehn Jahren Techno et al., auf einer anderen Ebene.

Jetzt geht es um den Re-Import des Songs in ein strukturloses und wortloses, ein subjektloses musikalisches Feld. Jimi Tenor steht für diesen Rücktransport – er war zwar nie ein Techno-Künstler, wurde aber als Vertreter des Labels Warp hauptsächlich in der betreffenden Szene stark rezipiert. Auf „Out Of Nowhere“ lebt der Song auf, inkorporiert ist jetzt die musikalische Wirrnis, aus der heraus er einst entstanden sein mag. Auch bei Tenor werden Dinge wie Struktur, Refrain und Strophe immer wieder von der Eigendynamik des arbeitenden musikalischen Materials überwuchert.

Es war also richtig, dass sich der Finne irgendwann ans Piano gesetzt, fein alles notiert, ein Orchester, das man sich gerade noch so leisten kann, nämlich das des Theaters in Lodz, engagiert und alles hinter sich gelassen hat. Alles auf sich zukommen lassen. Nirgends Sperren aufstellen. Visionen Wirklichkeit werden lassen. Schon heute in die Zukunft reisen. Hier wird nicht die Expo betextet, sondern das neue Album von Jimi Tenor. Damit hat jemand, von dem man dachte, er würde auf ewig Geselle des Easy Listening sein, tatsächlich noch sein Meisterwerk abgeliefert – wenn man denn, was angesichts von „Out Of Nowhere“ völlig unpassend ist, das Vokabular der deutschen Handwerkszünfte anwenden möchte.

MARTIN PESCH

Jimi Tenor: „Out of Nowhere“(Warp/Zomba)