Subjekt/Stockholm

Was Ich war, muss politisch werden: In seinem nachgelassenen Roman „Die Situation“ schreibt Peter Weiss die Vorgeschichte des Jahres 1968
von JÜRGEN BERGER

Es war der letzte Versuch von Peter Weiss, sich in Schweden als Schriftsteller zu etablieren. Alle schwedischen Verlage lehnten jedoch 1956 das Manuskript von „Die Situation“ ab. Im Rückblick scheint das auch durchaus erklärbar: „Die Situation“ wirkt, als versuche ein deutscher Schriftsteller, sich in Schweden über das Medium der schwedischen Sprache neu zu erfinden, und als begehre ein europäischer Weltbürger Einlass in Pariser Existenzialistenkreise.

Dabei wagte sich Weiss für damalige Verhältnisse verstörend weit ins Subjektive vor. Jetzt, da Suhrkamp „Die Situation“ in der hervorragenden Übersetzung von Wiebke Ankersen im Rahmen seines fünfzigjährigen Verlagsjubiläums zum ersten Mal zugänglich macht, wird deutlich: Der Roman mit all seinen Unzulänglichkeiten – vor allem der Schluss wirkt unfertig – hätte allerdings sowohl den Schweden als auch den Deutschen der bigotten Fifties überaus gut getan.

Heute wirkt Weiss' Versuch der künstlerisch-subjektiven Selbstanalyse, als habe er zwei Jahrzehnte übersprungen und die Sechzigerjahre von hinten aufgerollt. Während der Studentenunruhen ging es ja zunächst darum, einen politischen Standpunkt in Abgrenzung zu den restaurativen Fünfzigerjahren zu formulieren, um am Ende in bedingungsloser Subjektivität und Selbstfindung zu landen. Weiss jedoch schreibt schon im Vorfeld einen Roman, in dem das Subjektive hin zum Allgemeinen und Politischen drängt.

In dem Buch flutet eine kleine Gruppe von Künstlern, Schriftstellern und Journalisten eine Nacht, einen Tag und eine weitere Nacht durch Stockholm. Eines ist ihnen gemein, ob sie nun Leo, Fanny oder Paul heißen: Sie sind derart indifferent und ziellos, dass sie allein deshalb nach einem Punkt außerhalb ihrer selbst suchen, der ihrem Leben wieder Sinn geben könnte.

Leo ist Maler. Mit der jungen Schriftstellerin Fanny macht er es schnell auf der Atelierscouch, obwohl Leo sich wohl doch nicht von seiner Frau mit dem detailliert beschriebenen ausgemergelten Körper trennen wird. Paul, der Theaterautor und Regisseur, diskutiert mit den anderen das kommende Theater, um am Schreibtisch dann doch wieder zu zweifeln, ob er fiktionale Texte schreiben oder Gespräche mit dem Tonband aufzeichnen und als Dialoge verwenden soll. Und dann ist da noch Viktor, Fannys Vater, der als Journalist die Weimarer Republik erlebte, an sich selbst „das mystische Bedürfnis des hoch entwickelten Gedankenwesens nach dem Black Out“ feststellt und im Londoner Exil sein Ernst-Jünger-Erlebnis angesichts der Nazigeschwader und eines „Himmels rot von Feuersbrünsten“ hatte.

Alle fragen sie sich, wo die Grenzen der Subjektivität liegen und ob man dieser Welt mit dokumentarischer Kunst besser zu Leibe rücken könnte. Eine Antwort findet keiner, dazu ist jeder zu sehr mit sich und seinem Körper beschäftigt. Sie wollen das „bloß“ Subjektive überwinden und aalen sich gleichzeitig darin.

Acht Jahre später wird Peter Weiss im Schauspiel „Marat/ Sade“ den Widerstreit zwischen dem bedingungslosen Individualimus eines Marquis de Sade und der fanatischen Sozialutopie eines Jean Paul Marats beschreiben. Diese Auskristallisierung beider Pole gibt es in der „Situation“ noch nicht. 1956 steckt er noch mitten in der künstlerischen Introspektion und befindet sich am Anfang eines Prozesses, an dessen Ende „Die Ästhetik des Widerstands“ (1975) und die These stand, Ästhetik, Subjektivität und gesellschaftliches Bewusstsein ließen sich verbinden.

Ein radikalsubjektives Schreiben wie in „Die Situation“ wirkte Mitte der Fünfzigerjahre noch provokant. Die literarische Welt war gerade dabei, Henry Millers Romane zur Kenntnis zu nehmen. Aber auch Millers anarchischer Individualismus und seine Beschreibung eines entgrenzten Sexus wurden als degoutant empfunden, obwohl er die Praktiken des begehrenden Körpers im Vergleich mit Weiss eher weich zeichnete. Der verfolgt getreu den ästhetischen Projektionen seiner Figuren eine Linie des kalten Dokumentarismus, vor allem wenn Körper intim werden. In „Die Situation“ hat man nicht selten den Eindruck, der Beobachter dieser sich selbst Beobachtenden verspüre während des Beobachtens Anflüge von Ekel. Liest man das heute, wirkt es, als werde man inmitten einer körperbesoffenen Zeit schonungslos auf das Verfallsdatum des Körpers hingewiesen. Allein schon deshalb sollte man den frühen Weiss-Roman lesen.

Peter Weiss: „Die Situation“. Aus dem Schwedischen von Wiebke Ankersen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 260 Seiten, 38 DM

Hinweis:Peter Weiss verfolgt in „Die Situation“ getreu den ästhetischen Projektionen seiner Figuren eine Linie des kalten Dokumentarismus