Ein Meister des Selbstlobs

In Weimar wurde Nietzsches 100. Todestag mit einer Buchpremiere gefeiert. Der Philosoph Peter Sloterdijk redete auch – allerdings nicht vom Übermenschenpark, sondern von einem „grenzenlosen Gutreden des eigenen Reichtums“

Sloterdijk liest die „peinlichsten“ Sentenzen des Sonnenphilosophen als Serum gegendie Moral des Ressentiments

Friedrich Nietzsche präsentierte sich an seinem 100. Todestag als angenehmer Zeitgenosse. Die Sonne schien von einem strahlend blauen Himmel auf Nietzsches Sterbeort, die Weimarer Villa Silberblick; und diese schaute mit ihren Hundsaug-Fenstern ganz gutmütig aufs profane Städtchen Weimar zu seinen Füßen hinunter. Das Geschichtenerzählen hat man sich hier indessen abgewöhnt. Denn auch Nietzsches Schwester, die Märchenerzählerin, die Lügnerin, die Hausherrin Elisabeth Förster-Nietzsche, ist längst tot.

Auf meinem Weimarer Schreibtisch liegt jetzt ein kleines Buch über „Das Nietzsche-Archiv in Weimar“, druckfrisch, und darauf ist zu sehen: die Van-de-Velde-Villa am Hang. Mit Hundsblick, aber ohne Sonne. Die Sonne nämlich, fand Friedrich Nietzsche, war er selbst: „ein Stern bereit und reif in seinem Mittage, glühend, durchbohrt, selig vor vernichtenden Sonnen-Pfeilen: – eine Sonne selber und ein unerbittlicher Sonnen-Wille“, so steht es im „Zarathustra“. Auf wunderbar stockfleckigen Fotos erscheint dagegen „Herzensfritzens Schwesterherz“ Elisabeth Förster-Nietzsche mit riesigem Chapeau und Lorgnon – „dann empfing sie“, schreibt ihr Nichtchen Ursula Sigismund, „den Hitler im Archiv und nannte ihn ‚einen herrlichen Mann, den wir lieben müssen‘, und ich muß gestehen das lächerlich gefunden zu haben – Backfischschwärmerei einer alten Frau“.

So kam Nietzsche unter die Deutschen: Als „Nietzsche-Archiv“ und Musentempel für Weimars bronzene Zeit, als eine Legende vom Philosophen nach seinem Tod am 25. August 1900. Nietzsches Weimar gab es und gibt es deshalb nur im Modus der Nachträglichkeit: Als „eine Wirkungsgeschichte, die zwischen museologischer Erschließung, unterwürfiger Verehrung, bildungsreligiösem Kult, ästhetischer Adaption, politischer Instrumentalisierung und fahrlässiger Vernichtung des Überkommenen changiert“. Das sagte der Historiker Justus H. Ulbricht jetzt, am 25. August 2000, bei der Herausgabe des neuen, schönen Buches – und er fuhr fort: „Wie Nietzsche selbst zu verstehen ist , bleibt Teil einer offenen Deutungsgeschichte. Wird aus der ‚Villa Silberblick‘ dereinst gar die ‚Villa Sloterdijk‘?“

Damit war dann der kleine Giftpfeil abgeschossen und rübergeschickt gen Weimars neuen Musentempel im Ilmpark, den schwarzen Theaterkubus aus dem Kulturstadtjahr 99. Eine Stunde zuvor hatte Großdenker Peter Sloterdijk dort für die Stiftung Weimarer Klassik seine Gedächtnisrede auf den philosophischen Urahnen beendet: „Über die Verbesserung der Frohen Botschaft – Nietzsches Überhumanismus“. Ein Titel, der Böses ahnen und die Herzen der mächtigen Weimarer Sinn-Stiftung erwartungsfroh klopfen ließ. Versprach er doch nichts anderes, als dass Sloterdijk seine berüchtigten posthumanistischen Elmauer Vorträge zu „verbessern“ gedenke und nach Heidegger nun endlich den Weimarer Nietzsche als Kronzeugen heranziehen werde. Würde Weimar den Elmauer Ruhm deckeln können?

Doch kein Wort – dieses Mal – vom „Menschenpark“, keine Rede von der optionalen Geburt am 100. Todestag des Philosophen. Sloterdijks anthropotechnische Verbesserung des Menschengeschlechts muss vorerst noch ohne Nietzsches Hilfe auskommen: Dessen „Überhumanismus“, so Sloterdijk, sei nämlich seinem diskurstechnischem Erfindergeist geschuldet.

In einer zweistündigen Laudatio verdichtete der Philosoph Peter Sloterdijk seinen Vorgänger zum Meister des Selbstlobs. Als erster Philosoph im christlichen Abendland habe Friedrich Nietzsche die Rede von sich selbst wieder mit der Ruhmesrede verbunden, so die These. „Dieses grenzenlose Gutreden des eigenen Reichtums“ bilde seitdem „das Gegenärgernis zu dem von Paulus ausgerufenen Ärgernis des Kreuzes“.

Sloterdijk bettete seine Provokationen in Weimar in eine geduldige Hermeneutik: Man müsse die „peinlichsten“ Sentenzen des Sonnenphilosophen als Serum gegen die 1.900-jährige Moral des Ressentiments lesen. Als „Prestige-Shareholder“ seiner selbst und als „Trend-Designer des Individualismus“ habe der Mann mit dem Walrossbart die Welt vom Diktat des paulinischen Ressentiments befreit, so Sloterdijks Fazit. Mit Nietzsche sei das Individuum wieder ichfähig geworden, fähig zum „Selbstfremdlob“, zu einer Vielheit von Kräften, Reden, Gebärden und ihr Sichkomponieren „unter der Regie eines Ich, das sich bejaht“.

Die Weimarer Gedächtnis-Rede von Sloterdijk wurde so zum Resümee eines postmodernen Nietzsche: zur Laudatio auf den Vordenker eines neuen pluralen Selbstbewusstseins, in dem sich das affirmative Denken eines frühen Jean-François Lyotard mit dem späten Foucault trifft.

So wie Nietzsche sein Selbst im Medium der Maschinenschrift unmittelbar mit den Figuren der Laudatio verknüpfte, so verschaltete auch Sloterdijk das sprechende Ich unmittelbar mit dem jubilierenden Infans. Schluss mit dem destruktiven Denken einer uneinholbaren Nachträglichkeit unseres Seins, so seine Botschaft. „Nietzsches Überhumanismus“ liege in seiner Hoffnung auf eine „Mobilmachung noch unerwiesener Energien“ des Menschen: „Es liegt auf der Hand, daß schon diese rudimentären Hinweise auf eine Linguistik des Jubels oder der Selbstaffirmation im schärfsten Gegensatz stehen zu allem, was die theoretisierende communis opinio des letzten Jahrhunderts in bezug auf die Sprachen gedacht und gesagt hat.“ FRITZ VON KLINGGRÄFF