„Wer den vollen Verkehrswert verlangt, denkt ahistorisch“

Lothar de Maizière, der als letzter Ministerpräsident der DDR den Einigungsvertrag mitgestaltete, über den feinen Unterschied zwischen Ausgleich und Entschädigung

taz: Herr de Maizière, wie bewerten Sie das Urteil?

Lothar de Maizière: Ein vernünftiges, ein ausgewogenes Urteil, das der Erklärung vom 15. Juli 1990 entspricht. Damals hatten die beiden deutschen Staaten festgeschrieben: „Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland ist der Auffassung, dass einem künftigen gesamtdeutschen Parlament eine Entscheidung über eine etwaige staatliche Ausgleichsleistung vorbehalten bleiben muss . . .

. . . was die Regierung Kohl 1994 mit dem Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz umsetzte, das gestern in Karlsruhe bestätigt wurde.

Genau. Im Entwurf der politischen Erklärung stand 1990 zunächst „Entschädigung“. Wir, die DDR, haben damals gesagt: Das Wort „Entschädigung“ akzeptieren wir nicht. Entschädigung heißt nämlich, dass ich jemanden, der Anspruch hat, so stelle, als ob das schädigende Ereignis nicht eingetreten wäre. Ich muss ihn in vollem Umfang entschädigen. „Ausgleich“ hingegen bedeutet etwas ganz anderes: den Schaden zu mildern.

Ihre Regierung orientierte sich am Lastenausgleichsgesetz der Bundesregierung, das nach dem Krieg für Vertriebene aus Polen galt. Warum?

Das bundesdeutsche Gesetz war damals degressiv angelegt: Wer alles verloren hatte, bekam prozentual ein bisschen mehr als der, der nur die Hälfte verloren hatte. Andere, die nur 10 Prozent eingebüßt hatten, bekamen gar nichts, weil sie im Vergleich zu den Deutschen, die durch Bomben alles verloren hatten, vergleichsweise gut dastanden. Ziel war auch bei uns nicht die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands – also volle verkehrswertgerechte Entschädigung –, sondern einen Ausgleich zu finden.

War es ein Fehler der Regierung Kohl, den Begriff „Entschädigung“ in den Gesetzestext aufzunehmen?

Jein. Im Vermögensgesetz, das im Wesentlichen die Rückgabe von Vermögenswerten regelt, die nach 1949 enteignet worden sind, steht, dass in bestimmten Fällen auf Entschädigung erkannt werden kann.

In welchen Fällen?

In den Fällen, in denen etwa eine Rückgabe nicht mehr möglich ist, weil das Grundstück dem Gemeingebrauch gewidmet worden ist. Aber: Auch die Entschädigung nach dem Ausgleichsleistungsgesetz orientiert sich nicht am Verkehrswert. Das wäre gegenüber ehemaligen DDR-Bürgern ungerecht. Ein Beispiel: Wenn das Eigentum eines DDR-Bürgers auf Braunkohlegebiet stand, und er wurde nach dem Energiegesetz enteignet, bekam er das 1,3fache des Einheitswertes von 1935. Hatte er das Geld auf die Bank gebracht, wurde nach der Währungsunion von 2:1 daraus das 0,65fache. Der Nachbar, der in den Westen gegangen ist, bekommt heute dank des Entschädigungs- und Ausgleichsgesetzes ohnehin schon ungleich viel mehr. Wieso sollten die jetzt noch mehr bekommen? Die Sache ist auch aus anderem Blickwinkel ungerecht: Wie wollen Sie immaterielle Schäden ausgleichen? Nehmen sie den Ostdeutschen, der nicht in die FDJ gegangen ist und deshalb nicht studieren konnte. Dessen Leben hätte im Westen einen ganz anderen Weg genommen. Wer aber entschädigt denn den? Diejenigen, die jetzt den vollen Verkehrswert verlangen, denken ahistorisch. Sie wollen den Zustand von 1945 restaurieren. Das aber ist unmöglich: Geschichte ist keine gerechte Veranstaltung.

Bedeutet das Urteil einen Schlussstrich unter die gesamte Entschädigungsdebatte?

So wie ich die Alteigentümer kenne, werden sie jetzt vor den Europäischen Gerichtshof ziehen. Wie der entscheiden wird, ist ungewiss. Die politischen Möglichkeiten jedenfalls sind ausgeschöpft. Wir haben 1990 den Artikel 143 in die Verfassung gebracht, der die Bodenreform unantastbar macht. Mein sozialdemokratischer Koalitionspartner wollte damals, dass die Volkskammer ein Gesetz zum Schutz der Bodenreform macht. Die SPD wollte dieses Gesetz per Einigungsvertrag ins fortgeltende Recht bringen. Die CDU hat gesagt: Das ist genau der falsche Weg. Das fortgeltende Recht kann mit einfacher Mehrheit geändert werden. Eine Grundgesetzänderung braucht aber eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat. Die ist aber nicht in Sicht.

Ist das Urteil ein Spruch für die Ostdeutschen?

Es ist ein Spruch für alle deutschen Steuerzahler. Wäre die Regierierung verpflichtet worden, den Interessen der Alteigentümer zu entsprechen, hätten wir alle das zahlen müssen. Sicher, einige der Bodenreform-Enteigneten sind tatsächlich mit der nackten Haut davongerannt. In aller Regel haben sie aber im Westen eine neue Lebenschance gefunden. INTERVIEW: NICK REIMER