Anwalt aus Verpflichtung

Nicht nur die schützenswerten Bauwerke der Moderne sehen sich Angriffen und Abrissen ausgesetzt, auch die Denkmalpflege selbst steht am Scheideweg. Berlins Landeskonservator Jörg Haspel plädiert für eine neue Rolle des Denkmalschutzes und macht sich für eine vorbeugende Denkmalpflege stark

Interview OLIVER G. HAMM
und JÜRGEN TIETZ

taz: Die Aufgaben für die staatliche Denkmalpflege sind in den letzten Jahren gewachsen. Trotzdem sind in allen Bundesländern die finanziellen Zuwendungen und personellen Ausstattungen für die Denkmalpflege gekürzt worden. Zugleich ist die Zustimmung für die Denkmalpflege unverändert groß – die Debatte zum Hoffmann-Axthelm-Gutachten, die hohen Besucherzahlen am Tag des offenen Denkmals und die Blüte des Stiftungswesens belegen das. Könnte es sein, dass vor dem Hintergrund eines hohen Engagements der Bürger für das Baukulturerbe die institutionalisierte Denkmalpflege mehr und mehr marginalisiert wird?

Jörg Haspel: Wer sich ernsthaft mit dem Denkmalthema beschäftigt, wird schnell erkennen, dass Denkmalbehörden als Vermittlungsinstanz in konservatorischen Angelegenheiten unverzichtbar sind und der Schutzauftrag, wie jeder staatliche Kulturauftrag, nicht einfach dem freien Spiel der Kräfte überlassen werden darf. Aber was stimmt: Die Fördermittel der Länder für die Denkmalpflege sind allenthalben spürbar gesunken.

Andererseits hat die öffentliche Resonanz auf Denkmalthemen deutlich zugenommen. Ich würde sogar sagen, dass das Anliegen der Denkmalpflege nie zuvor so populär war wie heute. Dieses Interesse und Engagement dürfen weder die Denkmalämter noch die Denkmalpolitik vernachlässigen, sondern müssen sie aufgreifen und fördern.

Muss sich vor diesem Hintergrund nicht auch das Selbstverständnis des Denkmalpflegers verändern?

Wir müssen verstärkt zu einer Art vorbeugender Denkmalpflege kommen, die ihre Chancen auch im Vorfeld wahrnimmt: etwa für leer fallende und deshalb im Unterhalt gefährdete Denkmäler frühzeitig wirtschaftlich belastbare Nach- und Umnutzungsstrategien anregen oder mit entwickeln.

Gibt es dafür Beispiele?

Der englische Begriff „Management Plan“, der komplexe Konservierungs- und Restaurierungsziele, aber immer auch Nutzungs- und Bewirtschaftungsziele für Denkmäler in ein interdisziplinäres Gesamtkonzept integriert, bringt diese Herausforderung auf einen Punkt. Zeitgemäße Denkmalpflege wird zwar nicht im Rollentausch als Denkmaldevelopment agieren, aber sie sollte drohende Fehlentwicklungen registrieren und im Zusammenwirken mit Planung und Wirtschaft korrigieren oder wenigstens Anstöße in diese Richtung vermitteln können.

Dabei geht es nicht um eine neue Aufgabe für die Denkmalpflege, sondern um ein geschärftes Selbstverständnis der Rolle der Denkmalpflege, die in ihrer Anwaltsfunktion dem anvertrauten Schutzgut auf lange Sicht eventuell einen besseren Dienst durch frühzeitiges Agieren erweisen kann als in den herkömmlichen Bahnen des – ohnehin in Bewegung geratenen, weil in der Reform befindlichen – Verwaltungshandelns.

Die Berliner Denkmalpflege hat in den letzten zwei Jahren einige denkmalgeschützte und -werte Bauten insbesondere der Sechzigerjahre preisgeben müssen: das Studentendorf Schlachtensee, das Schimmelpfeng-Haus und einen Teil des Victoria-Areals in der City-West oder auch erste Bauten der Nachkriegsmoderne im Ostteil der Stadt, etwa zuletzt das „Ahornblatt“. Kann die Landesdenkmalpflege, die der Stadtentwicklungsverwaltung angegliedert ist, einem politischen und ökonomischen Druck, der ja offensichtlich an den genannten Orten geherrscht hat, widerstehen und dort noch frei entscheiden und zumindest frei ihre Bedenken gegen Abrisse vortragen?

Denkmalbehörden haben die Aufgabe, das öffentliche Interesse an der Denkmalerhaltung auch in schwierige und konfliktträchtige Abwägungsprozesse einzubringen. Dass im Fall von Schlachtensee, dem Schimmelpfeng-Haus oder Victoria-Areal gegen die vorgelegten Totalabriss-Szenarien überhaupt um Kompromisse, also wenigstens um einen ansehnlichen Teilerhalt des Nachkriegsbestandes gerungen wird und die Vorgeschichte dieser Standorte in Ausschnitten erfahrbar bleibt, ist allein dem Denkmalstatus zu verdanken.

Beim Victoria-Areal – wie überhaupt rund um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche – drohen aber nicht allein Teilverluste in der Denkmalsubstanz. Sorgen machen auch stadt- und denkmalunverträgliche Maßstabssprünge durch Neubauprojekte, die den Bestand gleichsam degradieren, also eher entwerten, als sie durch neue Impulse aufwerten zu können.

Sie haben die Frage noch nicht beantwortet, ob die Denkmalpflege nicht deutlicher zum Ausdruck bringen muss, dass ihr bestimmte Denkmäler, wie etwa das Ahornblatt, so wichtig sind, dass sie sie nicht aus dem Denkmalschutz entlassen kann.

Das Ahornblatt ist nicht, wie Sie so freiheitsliebend formuliert haben, als Konfliktpotenzial im Vorweg aus dem Denkmalschutz „entlassen“ worden, sondern stand als denkmalwerter Gegenstand im Zentrum äußerst kontroverser Debatten um Erhaltungs- und Veränderungsziele auf der Berliner Fischerinsel. Und es bot darüber hinaus konkretes Anschauungsmaterial für eine erforderliche Klärung unserer Position zur Nachkriegsmoderne. In diesem Fall hat sich zwischen den unterschiedlichen Verwaltungsinstanzen, politischen Gremien und dem Investor leider eine Entscheidung auf Kosten des Denkmals durchgesetzt. Aber nirgendwo konnte der paradoxe Eindruck entstehen, das Landesdenkmalamt oder der Landesdenkmalrat habe das Erhaltungsinteresse an dem als Denkmal ausgewiesenen Schalenpavillon verloren.

Vor einigen Wochen, beim Berliner Baugespräch „Bauerhaltung ohne Denkmalschutz“ zum Bewag-Verwaltungsgebäude von Baumgarten, haben Sie unter anderem von den fehlenden Kriterien für eine Denkmalwürdigkeit von Bauten der Sechziger- und Siebzigerjahre gesprochen und dies als Grund genannt, warum das genannte Gebäude nicht unter Denkmalschutz gestellt und damit letztlich zum Abriss freigegeben wurde. Angesichts weiterer bereits vollzogener Abrisse und der akuten Bedrohung gleich mehrerer Bauten aus ebendieser Zeit: Wann ist mit solchen Kriterien zu rechnen?

Es fehlen nicht die Denkmalschutzkriterien für eine besondere historische, künstlerische, städtebauliche oder wissenschaftliche Bedeutung, sondern es mangelt – nach den im Westen vor Jahren abgeschlossenen und im Osten seit dem Mauerfall nachgeholten großflächigen Denkmalerfassungen – verständlicherweise an Überblicksinformationen für die in den nächsten Jahren womöglich zunehmend als Sanierungs- oder Gefährdungsfälle auftretenden Objekte der letzten und vorletzten Generation.

Aber Informationen sind doch nicht ausreichende Garanten für den Erhalt?

Es gibt mittlerweile in allen Bundesländern eingetragene und als denkmalwert ausgewiesene Objekte der Nachkriegszeit, selbst der Sechziger- und Siebzigerjahre. Schlüsselzeugnisse dieser Jahre, wie die Neue Nationalgalerie von Mies van der Rohe in Berlin oder die noch jüngeren Münchener Olympiabauten von Behnisch & Partner, sind ja nicht als schutzbedürftiger Gegenstand der Denkmalpflege umstritten, sondern allenfalls im Hinblick auf ihre eher denkmalgerechte oder eher denkmalwidrige Behandlung.

In Zukunft wird aber womöglich verstärkt die Frage aktuell werden: Sollen außer solchen Inkunabeln aus dem Weltlexikon der Architekturgeschichte weitere, weniger renommierte, aber für einen regionalen oder lokalen Bezugsraum bedeutende Strukturen und Objekte erhalten bleiben? Und, falls ja, welche baurechtlichen und förderrechtlichen Erhaltungsinstrumente sind neben dem Denkmalschutz für diesen Baubestand geeignet?

Das Gutachten von Hoffmann-Axthelm stellt ja nicht nur die bisherige staatliche Denkmalpflege in Frage, sondern lässt sich streckenweise auch als Kampfansage an die Moderne lesen. Gehen Sie mit Hoffmann-Axthelm konform, wenn er sagt, dass die Moderne generell nicht und die Ensembles der Moderne speziell nicht mit den Kategorien der Denkmalpflege bestritten werden können?

Die erfreuliche Rehabilitierung, die die historische oder genauer: die vormoderne Stadt in der letzten Generation erfahren hat, und die Reaktivierung traditioneller Bebauungsmuster im Sinne der „europäischen Stadt“ für aktuelle Planungsleitbilder dürfen nicht in einen unreflektierten Revanchismus gegen bestehende erhaltenswerte Beiträge der Moderne umschlagen. Sie dürfen also nicht mit demselben Rigorismus und derselben Ignoranz, mit der die Moderne die Geschichte ausgetrieben hat, nun die Moderne ausmerzen wollen.

Hierin liegt doch die einzigartige Chance eines zeitgemäßen Planungsleitbildes, das Stadt weder im Sinne der Moderne permanent neu erfinden oder in rückwärts gewandter Umkehrung unkritisch rekonstruieren, sondern ohne Zerstörung wieder aufbauen und weiterbauen will.

Aber benötigen nicht gelegentlich Ensembles der Moderne Bestands- und Veränderungsschutz statt schematischer Nachverdichtungskonzepte nach einem rückwärts gewandten Planwerk Innenstadt, an dem ja Hoffmann-Axthelm federführend beteiligt war?

Gerade bei eingetragenen jüngeren Denkmalbereichen, also denkmalgeschützten Ensembles, wie dem Berliner Hansaviertel, ist es ja gelungen, über eine Einzelbetrachtung der individuellen Bauwerke hinaus auch städtebaulich-denkmalpflegerische Interessen an Freiräumen und der Gesamtkonzeption dieses modernen Stadtquartiers zu thematisieren.

Die Frage ist immer wieder neu zu stellen: Wie kann man bei Anzeichen von Attraktivitäts- und Funktionsverlusten solche städtebaulichen Einheiten stabilisieren, wo nötig neue Impulse setzen, also weiterentwickeln, um sie funktionsgerecht und zugleich denkmalgerecht zu revitalisieren? Das gilt auch für andere „Flächendenkmale“, für Gesamtanlagen von Siedlungen, für Krankenhauskomplexe oder Industrieensembles, um funktionale und wirtschaftliche Überlebenshilfen für Denkmale zu leisten.

Berlin besitzt zahlreiche Geschichtsdenkmäler. Auch der Berliner Schlossplatz und seine Bauten sind Geschichtszeugnisse ersten Ranges, und zwar vielschichtige Geschichtszeugnisse. In der jetzt wiederbelebten Diskussion um eine Rekonstruktion des Berliner Stadtschlosses, die einen Abriss des Palasts der Republik voraussetzte, wurde bislang weit gehend übersehen, dass dieser Palast als ehemalige Heimstatt der Volkskammer der DDR ein Geschichtszeugnis ersten Ranges und allein schon deshalb denkmalwürdig ist. Warum hat sich die Berliner Denkmalpflege mit diesem Argument noch nicht in die aktuelle öffentliche Diskussion eingebracht?

Das provoziert die Gegenfrage, ob Medienvertreter unter einer selektiven Wahrnehmung leiden. Schließlich ist es die Denkmalpflege, die – neben Architekturhistorikern und Vertretern der Palast-Initiative – schon seit Jahren darauf hinweist, dass dieses nicht denkmalgeschützte, aber gleichwohl zeitgeschichtlich aufschlussreiche Bauwerk sowohl in der Geschichte der Parlamentsarchitektur als auch in der Geschichte der DDR-Architektur einen besonderen Stellenwert hat.

Dennoch droht der Verlust.

Aber nicht weil, sondern obwohl es sich um ein Objekt von denkmalpflegerischem Interesse handelt. Wenn dieses Gebäude heute so sorgfältig dokumentiert ist, wenn zahlreiche Befunde erstellt und Bergungen in einem erheblichen Umfang vorgenommen worden sind, dann ist das doch in erster Linie der Denkmalpflege zu verdanken. Allerdings fanden in den zurückliegenden Entscheidungen jene Argumente kein Gehör, die anstelle einer Asbestentsorgung andere Möglichkeiten der Asbestsanierung verlangten, etwa eine Versiegelung, und sehr viel weiter gehende Optionen auf eine Erhaltung charakteristischer Baumerkmale, insbesondere der Innenräume, in situ ermöglicht hätten. Schließlich handelt es sich materiell um die einzigen glaubwürdigen Zeugnisse der Geschichte dieses Denkmalorts.