In der Traum- Bibliothek der Grooves

Geschichte, Repräsentation, Subjektivität: Erykah Badu empfiehlt sich als sprirituelle Übermutter der „Alternative Soul“-Erneuerungsbewegung

von TOBIAS NAGL

Als sich der afroamerikanische Soul-Historiker Nelson George Ende der Achtziger daran machte, das zurückliegende Jahrzehnt historisch einzuordnen, zeichnete er ein beispielloses Szenario Niedergangs: „The Death of Rhythm and Blues“ war der Titel seines Buchs, der, keineswegs überspitzt, seine Sicht auf den Stand der Dinge zusammenfasste. Wohin er auch schaute, seinem am politischen Erbe des schwarzen Nationalismus der 60er- und 70er-Jahre geschulten Blick hielt nur wenig stand.

George verstand sich als Konservativer, weil er das emanzipatorische Potenzial afroamerikanischer Musik bewahren wollte – und nichts, was er hörte, hatte noch entfernt etwas mit der musikalisch verfeinerten Black-Power-Programmatik der Songs von Stevie Wonder, Curtis Mayfield oder Aretha Franklin zu tun. Die Kluft zwischen Mittelstand und den Unterschichten innerhalb der Black Communities hatte sich unter Reagan enorm vergrößert, die ökonomische Infrastruktur selbst der afroamerikanischen Musikindustrie war zusammengebrochen, und die Musik dieser Ära hatte nicht nur alle instrumentale Meisterschaft der alten Session-Bands durch billige Computer ersetzt, schlimmer noch: Nicht einmal mehr ansatzweise ließ es sich ihr mit Schlagworten wie „Pride“ und „Respect“ beikommen. Diese Krise hatte viele Gesichter. Am deutlichsten aber war sie für George an der Karriere Michael Jacksons abzulesen. Den größten Erfolg hatte Jackson auf dem „weißen“ Popmarkt, dem er sich, die Anpassungsstrategien aller anderen Soul-Survivors aus den 70er-Jahren weit übertreffend, durch eine Reihe von chirurgischen Operationen auch äußerlich anzunähern versuchte.

Doch das Crossover wurde kaum belohnt. Tatsächlich schafften es immer weniger Soul-Singles in die Pop-Charts, und die Plattenfirma Motown, die mit ihrem Erfolg auch die Hoffnung auf einen politischen Siegeszug der Bürgerrechtsbewegung genährt hatte, schien denselben Weg zu gehen wie die fordistische Autoindustrie des Mittleren Westens der USA: in die Mülltonne der Geschichte.

Der Chic der Afrozentrik

Für den HipHop, der an dieser Stelle gedieh, hatte George gleichwohl wenig übrig. Zwar hielt er diesem zugute, adäquat die Zustände auf den Straßen zu reflektieren, seine Assimilation an den Mainstream hielt er aber nur für eine Frage der Zeit. Anders als der Musik seiner Jugend, so glaubte George, fehle dem Rap zudem jeder Bezug auf ein Prinzip Hoffnung. Der marxistische Theologe Cornel West bestätigte diesen Bruch mit dem erlösungsgeschichtlichen Kontinuum afroamerikanischer Musik etwas später mit seinem Verdikt vom „schwarzen Nihilismus“.

Zumindest was die offensichtlichen Fakten angeht, war Nelson Georges Einschätzung sicherlich zutreffend. Sie war aber auch einer durch und durch heterosexuellen Perspektive und einem nationalistischen Universalismus verpflichtet, der durch die Verbreitung dekonstruktiver Theoreme in den „Black Studies“-Seminaren amerikanischer Universitäten schon damals immer mehr ins Wanken geriet. Vor allem aber war sie strategisch taub: Die Bedeutung und Möglichkeiten digitaler Technologien jenseits ihrer Rationalisierungsfunktion überhörte George so geflissentlich wie die Entstehung des nicht kommerziellen, wenn auch schwulen House-Undergrounds aus den Ruinen von Disco. Mehr noch: Gerade als George über den Druckfahnen seines Buchs saß, trat eine Generation von Rappern genau jenes politisch-kulturelle Erbe an, das er herrenlos wähnte: Bands wie De La Soul, Jungle Brothers oder A Tribe Called Quest, im HipHop-Kollektiv der Native Tongues zusammengeschlossen, speisten ihre Sampler mit den unbestrittenen Glanzstücken afroamerikanischer Musik des 20. Jahrhunderts – von James Brown bis John Coltrane – und kleideten sich in afrozentrischem Chic. Andere, wie der X-Clan oder Public Enemy, bezogen sich auf die Nation of Islam und den Forderungskatalog der 60er-Jahre-Militanz. Und als ob sie Cornel West gelesen hätten, lautete ihre Losung bei der Rekonstruktion der schwarzen Tradition: Positivity!

My Definition of Soul

Positivy: Kaum ein Stichwort erlebte im letzten Jahr eine ähnliche Renaissance, wenn es darum ging, die Alben von so unterschiedlichen, untereinander befreundeten Künstlern wie D’Angelo, Jill Scott, Mos Def, Marcy Gray, Common, Lucy Pearl, Black Eyed Peas, The Roots, Angie Stone oder Reflection Eternal zu beschreiben. Sie alle gehören einer neuen Generation, wenn nicht gar Bewegung an, die an nichts so sehr erinnert wie die Native Tongues der frühen 90er-Jahre. Auch diese Erneuerungsbewegung reagiert auf eine Krise, die allerdings nur flüchtig betrachtet jener der 80er, die George konstatiert hatte, ähnelt. So inhaltsleer sich ein Großteil der HipHop-Produktion heute präsentiert und so repetitiv und schematisch das von R. Kelly und Montell Jordan neu etablierte R-’n’-B-Format inzwischen klingt: Gerade sein Sex und Glamour versprechender Funktionalismus ist es, der diese satinglatte Souldefinition zum Blueprint of Pop zwischen Britney Spears und Ayman hat werden lassen. Und ökonomisch sind afroamerikanische Künstler, selbst die „alternativen“, inzwischen so erfolgreich wie selten zuvor.

Erykah Badus Debüt „Baduizm“ etwa erreichte 1997 innerhalb eines Monats Platin und gilt als eines der ersten Manifeste des „Alternative Soul“, wie die Village Voice das neue Phänomen benannte. Noch im selben Jahr legte die militante Nichtraucherin mit der verrauchten Stimme wagemutig ein Live-Album hinterher: An dieses für die 70er-Jahre fast schon paradigmatische Format hatte sich im HipHop-Kosmos bisher kaum jemand getraut.

Erykah Badu erfüllt alle Qualitäten einer Diva. Mit ihrer öffentlich zelebrierten Schwangerschaft und ihrem zum beeindruckend phallischen Turban geschlungenen Dreadlocks wurde die inzwischen mit dem Rapper Common liierte Sängerin zudem schnell zum selbstbewussten role model im Kampf um die Abkehr von den sexistischen Klischees des Genres, den an anderer Stelle auch R-’n’-B-Künstlerinnen wie Angie Stone, Kelis, Lauryn Hill oder Jill Scott führen.

Fast vier Jahre hat sie sich für ihr neues, zweites Studioalbum „Mama’s Gun“ Zeit gelassen, das dieser Tage erschienen ist – ein gutes Jahr weniger als ihr Kollege D’Angelo zwar, aber kommerziell nicht weniger riskant. Was Badu, die ihre Karriere nicht als Sängerin, sondern als Rapperin begann, samt der auf „Mama’s Gun“ vertretenen HipHop-Intelligenzija von den R. Kellys dieser Welt unterscheidet, ist vor allem eins: das emphatische Beharren auf der Möglichkeit von Musik, Medium des individuellen wie kollektiven Ausdrucks zu sein. Solche „Auteurs“ gab es in der Soul-Geschichte nur wenige: Curtis Mayfield gehörte ganz sicher zu ihnen; ein Foto von ihm trägt Badu, die ihre Songs alle selbst schreibt, ständig bei sich.

Die Inszenierungsweise der unter dem Namen Soulquarians zusammengeschlossenen Musiker erinnert mehr an die Jazz-Boheme und das „Black Arts“-Movement der 60er-Jahre. Neu im Kontext der zeitgenössischen HipHop-Produktionsweise ist aber ihr Vorgehen: Im durch Jimi Hendrix zu Weltruhm gelangten „Electric Ladyland“-Studio produzieren sie ihre Musik weitgehend handgemacht. Mit dem Acid Jazz der späten 80er-Jahre und der Technikfeindlichkeit alter Rocker hat das allerdings wenig zu tun, viel dagegen mit Effizienz: Wo andere HipHop-Produzenten auf alten Platten mühselig magische Stellen suchen müssen, schütteln Roots-Schlagzeuger ?uestlove, Bassist Pino Palladino und der als Produzent fungierende Keyborder James Poyser gleich reihenweise ganze Traumbibliotheken imaginärer Grooves aus dem Handgelenk.

Was eine derartige Spielweise musikalisch zu leisten vermag, lässt sich auf D’Angelos „Voodoo“ eindrucksvoll nachhören. Attraktiv wurde diese Back-to-the-Future-Ästhetik während der letzten Jahre zudem da, wo der theoretische Antihumanismus der Rave- und Sampling-Kultur an seine Grenzen gestoßen ist. Mit analogen Mitteln nähern sich die Soulquarians dem, was vom äußersten digitalen Ende ebenso in der Musik von schwarznationalistischen Deep-House-Avantgardisten wie Moodyman oder Theo Parrish zornig wiederkehrt: Geschichte, Repräsentation, Subjektivität.

Scat statt Sklavenname

„Being rightous is a full-time job“, erklärte die zeitweilig mit den „Five Percentern“, einer unter Rappern populären „Nation of Islam“-Abspaltung, sympathisierende Badu freimütig verdutzten Journalisten. Entsprechend hoch waren die Erwartungen an „Mama’s Gun“ berechtigterweise. Und doch ist „Mama’s Gun“ nicht jener übermenschlich anrührende Wurf geworden, auf den alle gewartet haben, sondern eben nur fast; sprich: ein sehr gutes, weitgehend überraschungsfrei durchlaufendes Album, das den Ruf der sich gelegentlich als spirituelle Übermutter präsentierenden Badu bestätigt, eine der kreativsten Vokalistinnen der Gegenwart zu sein. Ihr Scat-Gesang, von dem die unter dem „Sklavennamen“ Erica Wright Geborene das „Badu“ ableitet, bezieht sich auf die Repetitionstechniken des HipHop genauso wie auf die Fähigkeiten einer Billie Holiday, noch den trivialsten Popsongs eine Aura der Tiefe zu verleihen. Das nötige Extraquäntchen deepness, um aus dem Schatten eines Meilensteins wie „Voodoo“ zu treten, fehlt dennoch. Und in puncto intellektueller sophistication wurde sie unlängst von der aus der Philadelphia stammenden, der New Yorker Poetry-Szene nahe stehenden Jill Scott („Who Is Jill Scott“) elegant abgehängt.

Aber das muss nicht stören: Bis zum nächsten Erykah-Badu-Album hält „Mama’s Gun“ allemal. Wo „Baduizm“ noch von einer eigenwilligen 40er-Jahre-Jazziness glänzte, die Toni Morisson so viel wie den Native Tongues verdankte, lässt „Mama’s Gun“ es ordentlich im Dienste des Eklektizismus krachen: Schon der Eröffnungstrack „Penitentary Philosophy“ ist satt auf Funk-Rock gebürstet. Seit Kelis’ Riot-Grrrl-Ausbrüchen („Caught Out There“) ist man ja wieder gewöhnt, solche Genre-Transgressionen als gerechte Expropriation der Expropriateure zu sehen, im Sinne von Greg Tates „Black Rock Coalition“-Argument.

Warum Erykah Badu ihrem Album allerdings spiritualistischen Unsinn aus dem Manager-Motivations-Training („I love myself, I hide myself from no one“ etc.) voranstellt und ihren dreijährigen Sohn allen Ernstes als „soldier“ grüßt, mag man sich wirklich fragen – bis sie den Mund öffnet und ihre Stimme federleicht im Raum zu stehen scheint. Tatsächlich erinnert deren Klang an Billie Holiday. In Badu aber deshalb gleich deren legitime Nachfolgerin für die HipHop-Generation auszumachen ist dennoch falsch: In Sachen Masochismus reicht allenfalls Mary J. Blidge der großen „Lady Day“ das Wasser. Ansonsten ist solche Tragik, die dem Leiden an unauflöslichen Geschlechterverhältnissen wie politischen Umständen entsprang, heute glücklicherweise zum Auslaufmodell geworden.

Erykah Badu: „Mama’s Gun“ (Universal)