Tragödien aus dem Süden

Zwischen Texas und New York: The Handsome Family sind das Traumpaar des „Alternative Country“. Inspiration finden die Nashville-Häretiker mit Drumcomputer in Antiquariaten und Musikarchiven

Episoden aus dem Alltag, die eine surreale Note besitzen, sind das Markenzeichen der Handsome Family – bei den Texten stand Kafka Pate

von CHRISTOPH WAGNER

Wer in den Liedern des Ehepaars Rennie und Brett Sparks nach einer Botschaft oder Moral sucht, wird wenig finden. Außer vielleicht: dass die Welt ein traurig-schöner Ort ist und das Leben herzzerreißend und bittersüß zugleich. Mit Bekenntnissen tun sie sich schwer. Ihre Songs erzählen vielmehr kleine Episoden aus dem Alltag, die oft eine surreale Note oder ein rätselhaftes Moment besitzen. „Meine Lieder funktionieren wie Kurzgeschichten, denen ich eine traumhafte Qualität zu geben versuche. Man wacht auf und weiß nicht genau, was sie bedeuten. Man spürt nur, dass es etwas Wichtiges ist“, erklärt Rennie Sparks, die gewöhnlich für die Texte verantwortlich zeichnet, während Ehemann Brett für die Musik sorgt.

Einer ihrer eindringlichsten Songs mit dem Titel „The Sad Milkman“ handelt von einem Schlafwandler, der des Nachts den Kamin hinaufklettert und dem Mond entgegensteigt, während sich unten auf dem Gehsteig eine feixende Menge zusammenrottet, die versucht, ihn mit Steinen und Flaschen vom Dach herunterzuschießen. Das Stilmittel der Überlagerung verschiedener Handlungsebenen haben Brett und Rennie Sparks über die Jahre zu einem Markenzeichen entwickelt, wobei oft ein poetisch-märchenhafter Erzählstrang mit der Wirklichkeit kollidiert. Wie man solch widerstreitende Elemente unter einen Hut bringt, haben sie alten Countrysongs abgelauscht – etwa den Liedern der Louvin Brothers, die in den Fünfzigerjahren zu den populärsten Bluegrass-Gruppen gehörten und ihre „Story-Songs“ im damals typischen engen Harmoniegesang vortrugen. „Sie sangen einerseits diese schönen Harmonien und alten Melodien, die aber von düsteren Mordgeschichten und Katastrophen handelten, und gleich danach sangen sie wieder von Gott“, beschreibt Rennie Sparks die Faszination, die das Disparate auf sie ausübt. „Das alles zusammen, die Gewaltätigkeit und Schönheit, summierte sich zu etwas Mysteriösem, das trotzdem Sinn machte. Die alten Mordballaden aus dem Süden haben etwas von griechischen Tragödien, was die kathartische und dramatische Wirkung anbelangt.“

Rennie Sparks ist in der Welt der Bücher daheim. Neben Belletristik verschlingt sie Sachbücher zu allen möglichen Themen, ob Raumfahrt, Insekten oder Religion. Die thematische Auswahl überlässt sie oft dem Zufall: Sie liest einfach, was sie zufällig in billigen Antiquariaten findet. Franz Kafka zählt zu ihren Heroen. „Seine Kurzgeschichten sind so undurchdringlich und verschlossen“, schwärmt die Songwriterin. „Man weiß nie, ob man darüber lachen oder weinen soll; man kann sie auf unterschiedliche Art und Weise lesen. Das ist das Schöne an Kurzgeschichten: Sie öffnen ein Fenster, und man wirft einen kurzen Blick in eine andere Welt, bevor sich das Fenster wieder schließt.“

Seit das Ehepaar Rennie und Brett Sparks 1995 die Bühne des amerikanischen Musikgeschäfts durch einen Seiteneingang mit der Aufschrift „Alternative Country“ betraten, ist ihre Reputation kontinuierlich gestiegen. Vier Alben haben sie bisher veröffentlicht, die alle beträchtliche Aufmerksamkeit fanden. Die Kritiker waren sich einig: Das Duo hat das Zeug zur Carter Family der alternativen Countryszene.

Doch so hell die Lobeshymnen auch klangen, sie haben bisher zu keinem Auftritt in der „Grand Ole Opry“ geführt – dafür aber immerhin zu einer BBC-Session beim DJ aller DJs, John Peel. In der Umgebung von Hardcore-Rock, Techno-Beats und Post-Punk fühlen sich die Sparks sowieso wohler als zwischen Cowboyhüten und Rodeostiefeln. „Ich bin jüdisch und aus New York und alles andere als ein Hillbilly aus dem Süden“, bekennt Rennie Sparks. „Doch mein Mann stammt aus Texas. Deshalb klingt alles, was er singt, irgendwie nach Countrymusik – einfach weil seine Stimme diese Färbung hat. Wir begreifen uns als Nashville-Häretiker.“

Die Distanz zur Country-Industrie drückt sich nicht nur in der Entfernung zwischen Nashville und Chicago aus, wo Rennie und Brett Sparks seit etlichen Jahren leben. Auch ästhetisch liegen Welten zwischen dem hochpolierten Countrypop und ihren zerbeulten Heimwerkersounds, dessen Parameter „no budget“ und „low technology“ sind. Gewöhnlich nehmen sie ihre Platten im Wohnzimmer ihres Apartments in der Milwaukee Avenue auf, wobei so ungefähr alle Instrumente zum Einsatz kommen, die sich dort über die Jahre angesammelt haben: ein halbes Dutzend Gitarren, eine Mandoline, Banjo, Mundharmonika, aber auch alle möglichen Schlagwerkzeuge, dazu eine Melodica und eine Drummaschine, was jedem Countrymusik-Puristen die Haare zu Berge stehen lässt. „Vor einigen Jahren tourten wir mit Wilco. Am Ende der Tour stieg unser Schlagzeuger aus, weil wir kein Geld verdienten“, erzählt Brett Sparks. „Da weitere Auftritte anstanden, traten wir als Duo mit akustischen Gitarren auf, was fürchterlich klang. Ich dachte: Mein Gott, das hört sich ja wie Pete Seeger oder Peter, Paul & Mary an – was ja okay ist, nur nicht für mich. Ich will kein ‚Folkie‘ sein. Wegen unseres miserablen Taktgefühls probten wir dann eine Zeitlang mit einem Metronom. Letztlich besorgte ich eine Drummaschine, die mir sofort gefiel, weil sie eine Provokation darstellte.“

Der Drumcomputer als Nostalgiekiller passte ausgezeichnet ins Konzept einer zeitgemäßen Countrymusik, die sich nicht im Schönfärben der Vergangenheit erschöpft. „Wir sind nicht an Musik als einem Museumsstück interessiert. Wir wollen Aussagen über das Heute machen – was Folkmusik immer getan hat: Sie hat über das Leben im Hier und Jetzt berichtet. Die alten Hillbilly-Songs handelten von Kohleminen, Schießereien und Güterzügen, weil die Leute genau das sahen, wenn sie aus der Haustür traten. Wenn wir heute über dieselben Themen schreiben würde, wäre das verlogen. Wir sind an den Widersprüchen der Gegenwart interessiert, weil das Leben ja immer ein Mischmasch von Gefühlen ist. Deshalb macht es Sinn, wenn unsere Musik gleichzeitig alt und neu ist und die Lieder sowohl fröhlich und heiter als auch traurig und sarkastisch sind. Weil sie paradox sind, erscheinen sie verworren und undurchsichtig. Doch darin liegt für mich die Wahrheit der menschlichen Existenz.“

The Handsome Family: In the Air (Carrot Top Records/Indigo)